«Wir leben hier nicht als Nachkommen von Sklaven»
«Black lives matter»: Weltweit demonstrieren zurzeit Millionen von Menschen für die Rechte von Schwarzen – nach dem furchtbaren Mord an einem Schwarzen in den USA durch einen weissen Polizisten. Auch in der Schweiz und in Einsiedeln leben Schwarze. Wie empfinden Sie Ihr Dasein? Eine schwarze Person aus Einsiedeln spricht im Interview über Diskriminierung und Rassismus. Anonym.
WOLFGANG HOLZ
Eine Frage vorab, warum wollen Sie unser Interview nur anonym führen? Weil ich hier schon Feindseligkeiten erlebt habe. Wie lange leben Sie denn schon in Einsiedeln? Ich kam nach Einsiedeln im April 2004 und lebe seitdem hier. Warum hat es Sie in die Schweiz verschlagen? Ich habe meinen Kollegen, den ich an der Universität kennenlernte, geheiratet. Aus welchem Land stammen Sie ursprünglich? Aus einem Staat in Ostafrika.
Zurzeit gibt es weltweit Demonstrationen wegen des brutalen Mords eines weissen Polizisten an einem Schwarzen in den USA. Wie haben Sie auf diese schreckliche Tat als schwarze, in der Schweiz lebende Person reagiert?
Mit Empörung, natürlich! Tief in mir ahnte ich, dass es dieses Mal knallen wird. Hoffentlich, passiert so etwas nicht in der Schweiz! Die schmerzliche Wahrheit ist, dass wir aus freier Entscheidung hier leben und nicht als Nachkommen von Sklaven. Wir wissen, woher wir kommen, und wir können jederzeit zurückgehen. Es gibt überhaupt keinen Grund, uns zu unterdrücken. In der Schweiz würde die Polizei aus meiner Sicht aber nie so gewaltsam handeln wie die Polizei
in den USA.
«Black lives matter» nicht nur in den USA. Wie empfinden Sie Ihr Leben in Einsiedeln, in der Schweiz, als Mensch mit schwarzer Hautfarbe? In der Schweiz erlebt man einen systemischen Rassismus. Diesen erkennt man an Phänomenen wie beispielsweise Diskriminierung von farbigen Menschen am Arbeitsplatz, im Bildungssystem, im Wohnungswesen. Jeder weiss, dass der Kanton Schwyz sehr konservativ ist, und daher empfinde ich grossen Respekt gegenüber Schweizern und Schweizerinnen, vor allem gegenüber Einsiedlern, die farbige Menschen heiraten oder sich mit ihnen befreunden. Die Familie meiner Schwiegereltern hat mich aber nie akzeptiert. Der Rassismus wird gesellschaftlich verleugnet, obwohl er stark spürbar ist, auch wenn man sich nicht dazu äussert. Sind Sie wegen Ihrer Hautfarbe in Einsiedeln schon offen diskriminiert worden? Ich werde öfters mit Diskriminierung konfrontiert beim Einkaufen, wenn ich in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin oder bei der Arbeit.
Können Sie ein, zwei Beispiele nennen? Am Morgen nach Barack Obamas Wahl zum amerikanischen Präsidenten ging ich in ein Geschäft in Einsiedeln, um etwas einzukaufen. Die Verkäuferin weigerte sich, mich zu bedienen. Erst nachdem sie drei andere Kunden bedient hatte, wendete sie sich mir zu – mit einem ironischen Lächeln im Gesicht! Ich dachte mir lächelnd, dass die Wahl eines schwarzen Präsidenten sie wohl umgehauen hat! In einem anderen Fall, als ich meine Tochter zu einer Geburtstagsparty begleitete, durfte ich nicht ins Haus eintreten, obwohl andere Eltern schon drinnen sassen. Die Liste ist endlos. Sind Sie schon oft mit Ungerechtigkeiten konfrontiert worden?
Ein Mann ist einmal nach einem Missverständnis auf mich zugekommen und hat zu mir gesagt: „Ich werde dir zeigen, wem dieses Land gehört!» Es gibt auch Schweizer, die sich durch eine intelligente, selbstbewusste und modebewusste farbige Person eingeschüchtert fühlen. Während meiner Ausbildung war ich bei Gruppenarbeiten oft auf mich selbst angewiesen. Niemand hatte Lust, mit mir zusammenzuarbeiten. Dies änderte sich schnell, als man merkte, dass ich nicht so dumm war, wie man mich eingestuft hatte, sondern die Klassenbeste war.
Danach wollte jeder mit mir die Gruppenarbeit erledigen. Jemand sagte mir einmal, er habe noch nie eine Schwarze gesehen, die so schnell und fehlerfrei schreiben kann. Eine Lehrerin setzte meine farbige Tochter mal eine lange Zeit lang ganz allein zuhinterst ins Schulzimmer. Als ich sie damit konfrontierte, reagierte sie empört. Diese sogenannte Mikrodiskriminierung geht einem unter die Haut. Mit der Zeit wird man dadurch entweder charakterlich gestärkt oder geschwächt. Fühlen Sie sich denn sicher in der Schweiz? Sicherheit ist eigentlich nie ein Thema in der Schweiz, weil, wie gesagt, Rassismus nicht so offen und aktiv gezeigt wird, sondern hinter den Kulissen stattfindet. Ausserdem ist man in der Schweiz im Allgemeinen noch sicher.
Fühlen Sie sich wohl in Einsiedeln.
Ich fühle mich ganz bestimmt wohl in meiner Familie, bei meinem Mann und meinen Kindern. Alles andere ist mir egal. Warum werden aus Ihrer Sicht schwarze Menschen überhaupt diskriminiert? Nur wegen der anderen Hautfarbe? Weil sie aus einem anderen Kulturkreis kommen? Die Diskriminierung von Schwarzen bleibt ein Phänomen, in das wir einfach hineingeboren wurden. Ein typischer Fall von Diskriminierung in der Schweiz ist zurückverfolgbar, als die ersten Italiener in der Schweiz kamen. Die sind dann lange diskriminiert worden, bis Menschen aus Sri-Lanka kamen, gefolgt von Osteuropäern vom Balkan. Und dann gab es diese «Ehe-Welle» zwischen Schwarzen und Weissen. All diese Änderungen ereigneten sich so schnell, dass die Schweizer keine Chance hatten sich anzupassen. Noch dazu war die Schweiz nie eine Kolonie. Ich denke Diskriminierung passiert automatisch, wenn man nicht für Neues offen ist. Afrika wird auch immer dargestellt als ein sehr armes Land mit diversen Problemen, aber der reiche, saubere und hoch entwickelte Teil des Kontinents bleibt unerforscht. Was kann man aus Ihrer Sicht gegen Rassismus tun? Hier könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Als erstes sollte man bedenken: Wenn jemand nichts zu rassistischen Taten anderer sagt oder sogar mitlacht, bedeutet dies, dass diese Person Rassismus zustimmt. Man sollte auf alle Fälle die eigenen Vorurteile untersuchen und dann überlegen, woher sie stammen könnten.
Hatten Sie auch schon positive Erlebnisse? Ganz bestimmt! Ich begegne täglich sehr liebevollen, anständigen und freundlichen Schweizern. Diese erlebe ich manchmal an der Migros- oder Coop-Kasse, wenn mir jemand den Vortritt lässt. Ebenso beim Ein- und Aussteigen im öffentlichen Verkehr. Oder da ist die immer fröhliche und respektvolle Manor-Verkäuferin, die mich jedes Mal lächelnd mit Namen begrüsst. Öfters sehe ich die in Kinderwagen geschobenen hübschen Babys, die mich anlächeln. Oder da ist die Chefin, die sich stark um mein Wohlergehen kümmert. Oder es gibt Schweizer, die «Bitte » und «Entschuldigung» sagen. All diese positiven Erlebnisse und Begegnungen schmeicheln mir sehr.
Der Kampf der Schwarzen für gleiche Rechte dauert nun schon eine halbe Ewigkeit – nicht erst seit Martin Luther King und Nelson Mandela. Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptgrund für den Rassismus? Als Martin Luther King Junior seine Hoffnung beschrieb, in einer farbenblinden Welt zu leben, meinte er nie, dass wir die Rasse ignorieren sollten. Farbenblind zu sein, ignoriert einen wesentlichen Teil der Identität einer Person und verwirft das Reale in der Justiz, mit dem viele Menschen aufgrund ihrer Rasse konfrontiert sind. Farbe muss gemeinsam gesehen werden, um gemeinsam für Gleichheit und Gleichberechtigung zu arbeiten. Was macht Ihnen Hoffnung auf eine Welt ohne Rassismus? Es lohnt sich nicht zu hoffen – denn es wird nie eine Welt ohne Rassismus geben.
Der Name der Person ist der Redaktion bekannt.
«Als ich meine Tochter zu einer Geburtstagsparty begleitete, durfte ich nicht ins Haus eintreten, obwohl andere Eltern schon drinnen sassen.» «Ich begegne täglich sehr liebevollen, anständigen und freundlichen Schweizern.»
Eine Hand der interviewten Person. Foto: zvg