«Jeder muss selber den Weg finden, Christ zu werden»
Pfarrer Samuel Rath verlässt nach 24 Jahren die Freie Evangelische Gemeinde in Einsiedeln. Der 52-jährige Theologe wirft einen Blick zurück auf seine Zeit in Einsiedeln und berichtet, wie er im Klosterdorf das Gute suchte. In seiner letzten Predigt thematisiert der Pfarrer am Sonntag einen Text aus der Bergpredigt.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Der Lockdown ist an sein Ende gekommen: Wie haben Sie die Corona-Pandemie in Ihrer Gemeinde erlebt?
Glücklicherweise sind wir von Coronavirus-Ansteckungen verschont geblieben. Genau zehn Wochen konnten keine Live-Gottesdienste mehr in unserer Gemeinde stattfinden. Stattdessen gab es schriftliche Predigten, Gottesdienste als Online-Konferenz, mehr Mails als sonst, WhatsApp-Chats und Telefonate. Auf schriftlichem und mündlichen Wege konnte ich also in Kontakt bleiben mit den Mitgliedern unserer Gemeinde. Ist es in Ihrer Gemeinde gelungen, die Gottesdienste in den virtuellen Raum zu verlagern? Rund 35 Mitglieder besuchen im Schnitt am Sonntag den Gottesdienst im Zentrum Waldstatt. Während der Quarantäne- Zeit versammelten sich etwa die Hälfte hinter dem Computer. Nun sind die Videokonferenzen wieder von den regulären Gottesdiensten abgelöst worden, für die man sich vorgängig anmelden sollte. So kann die Wartezeit bei der vorgeschriebenen Einlasskontrolle verkürzt werden. Das erleichtert uns die Nachverfolgung allfälliger Corona-Fälle. Könnte das Schule machen, Chat-Gottesdienste über die Bühne gehen zu lassen? Richtige Begegnungen können nicht durch virtuelle Konferenzen ersetzt werden. Ich rede viel lieber zu echten Menschen als in eine Kamera. Ausserdem bringt es einen grösseren Arbeitsaufwand. Und bezüglich meiner Auslastung bin ich eh schon an meine Grenzen gekommen. In der katholischen und reformierten Kirche leiden Pfarrer verstärkt unter Burn-out. Geraten auch Pfarrer in der FEG in Gefahr auszubrennen? Ich bin in meiner Gemeinde mit einem 50-Prozent-Pensum angestellt. In Tat und Wahrheit übersteigt meine Arbeit dieses Pensum. Was darüber war, gehört zu meinem freiwilligen Engagement. Ich habe in der letzten Zeit aber auch gemerkt, dass ich auf meine Gesundheit achten sollte und bin an Grenzen gestossen. So ist es an der Zeit, nach 24 Jahren eine neue Herausforderung anzunehmen.
Just zu Ihrem Abschied sucht das Coronavirus das Land heim. Wie ordnen Sie dieses Virus in die göttliche Ordnung ein? Ich sehe das Virus in einer Reihe mit den Katastrophen und Seuchen, die Teil der erlösungsbedürftigen Erde sind. Aber es gibt einen Zusammenhang mit Gott. Es tauchen Fragen auf wie: Was macht das Virus mit uns? Die Betriebsamkeit hat plötzlich Pause. Ich habe in dieser Zeit viele Briefe geschrieben – von Hand, an unsere Gemeindemitglieder. Dazu hätte ich mir ohne Corona wohl kaum die Zeit genommen. Ich sehe im Lockdown eine Gelegenheit zur Besinnung auf Gott. Wie sind Sie selber vor 24 Jahren nach Einsiedeln gekommen, in dieses katholische Klosterdorf? Meine Kindheit habe ich in einer ausgeprägt katholischen Gegend in Baden-Württemberg verbracht. Aufgewachsen bin ich in einem Elternhaus, das mit einer evangelischen Freikirche verbunden war. Ich war also von Anbeginn meines Daseins an ein Exot unter «Andersgläubigen». Meine erste Stelle hatte ich der Stadtmission St. Gallen, die interessanterweise im alten St. Katharinenkloster zu Hause war. In St. Gallen habe ich aber auch gemerkt, dass ich kein Stadtmensch bin. Als ich dann das Angebot erhielt, Pfarrer der FEG Einsiedeln zu werden, habe ich angenommen. Wurden Sie angefeindet, als Sie in Einsiedeln angekommen sind? In der Tat gab es Stimmen im Hintergrund, die fanden, diese «invasive FEG-Sekte» hätte es nun nicht auch noch gebraucht im Klosterdorf. Doch die Mehrheit der Einsiedler war uns gegenüber sehr offen eingestellt und empfing uns überaus herzlich. In Willerzell, wo meine Familie die ersten neun Jahre lang gelebt hat und wo jeder jeden kennt, hatten wir eine gute Zeit. Auch meine Zeit bei der Feuerwehr Einsiedeln hat mitgeholfen, hier schnell heimisch zu werden. Wie haben Sie dieses Vierteljahrhundert im Klosterdorf erlebt? Ein besonders schönes Erlebnis war, wie eine deutsche Zuzügerin, die hier nicht den erhofften Anschluss fand und sich mit Isolationsgefühlen herumschlug, ihr inneres Zuhause bei Gott gefunden hat. Diesen Moment, als es Klick machte und sie verstand, was Jesus mit der Botschaft vom «Vater im Himmel » ausdrückt, werde ich nie vergessen. Auf der anderen Seite habe ich auch Menschen begleitet, wo ich ohnmächtig erlebte, wie sie den Glauben losgelassen haben.
Wie hat sich Ihre Gemeinde in dieser Zeit entwickelt?
Wir sind eine kleine Gemeinde mit familiären Zügen. Die Entwicklung unserer Gemeinde ist aber immer unberechenbar, junge Leute ziehen ja oftmals auch wieder weg. Die Gemeinde wächst also nicht automatisch. Die Eltern sind zwar die Vermittler des Glaubens – jeder muss allerdings selber den Weg finden, Christ zu werden. In der FEG gibt es denn auch keine Kinder-, sondern nur eine Erwachsenentaufe. Freikirchen wie Pfingstgemeinden oder ICF sind auf dem Vormarsch. Worin unterscheidet sich die FEG von diesen? Inhaltlich gibt es aus meiner Sicht keine allzu grossen Differenzen – der Unterschied besteht vielmehr im Stil, wie der Glauben gelebt wird. Ich persönlich habe sehr gute Freunde, die in einer Pfingstgemeinde zu Hause sind. Mein Stil ist eher nüchtern – aber mich ermutigt der Austausch mit diesen Christen jedes Mal, und ihr Enthusiasmus steckt positiv an.
Wie ist Ihre Glaubensgemeinschaft organisiert?
Die Freien Evangelischen Gemeinden in der Schweiz sind als föderalistischer Bund zusammengeschlossen. Glaubensfragen werden nicht einfach national entschieden, sondern vor allem in der lokalen Gemeinde ausdiskutiert. Das kann auch zu grossen Spannungen in einer Gemeinde führen, wenn Differenzen überhandnehmen. Trotzdem eint uns der rote Faden, dass alle FEG-Gemeinden sich immer wieder direkt am Evangelium und den biblischen Texten orientieren wollen. Führt der Umgang mit Homosexuellen in Ihrer Gemeinde zum Streit? Glücklicherweise nicht. Unsere Sexualethik ist klar: Gottes Plan ist die ergänzende und liebevolle Beziehung von Mann und Frau in einer verbindlichen und treuen Ehe. Das ist für uns gesetzt. Es ist aber auch eins der grossen Lernfelder im Leben und geht manchmal nicht ohne Scheitern. Für mich ist der Umgang mit diesen Fragen immer wieder eine Herausforderung, mich am menschennahen und doch Gott verpflichteten Verhalten von Jesus zu orientieren.
Haben Sie den Reformierten in Einsiedeln das Wasser abgegraben?
Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, da war nie eine Konkurrenzsituation spürbar. In einigen Projekten arbeiten wir als Gemeinde mit der reformierten Kirchgemeinde Einsiedeln und der Pfarrei Einsiedeln eng und freundschaftlich zusammen. Gemeinsam engagieren wir uns bei der Flüchtlingshilfe «Einsiedle mitenand», beim Ferienspass Einsiedeln und früher auch beim «Prayday» in den Schulen Einsiedeln. Ich sah den Beitrag seitens der FEG unter dem Motto: Wir sollen Salz in der Suppe sein. Christen sollen Gutes suchen.
Was fehlt in Einsiedeln?
Schön wäre es, wenn es im Klosterdorf einen zentralen Park geben würde, in dem sich Menschen einfach begegnen könnten. Ein zentraler, städtisch anmutender Platz, wo man verweilt, spielt, picknickt und miteinander ins Gespräch kommt. Der Klosterplatz ist dafür weniger geeignet und erfüllt andere Zwecke. Aktuell ist der Paracelsus-Park eher eine Art Durchgangsort. Vielleicht wäre eine Erweiterung des Parks auf dem Areal des Einsiedlerhofs eine Idee? Wie würden Sie den Geist im Klosterdorf beschreiben? Der Geist im Klosterdorf ist bodenständig, treu und stetig. Ich empfinde die Einsiedler als ein aufgestelltes Gemüt mit unkompliziertem Naturell. Wie lautet Ihr theologisches Credo? Ich glaube, das Reich Gottes, das Jesus gepredigt hat, ist die Antwort auf unsere tiefsten Sehnsüchte. Dietrich Bonhoeffer zähle ich zu meinen theologischen Vorbildern, nicht nur in seiner Auseinandersetzung mit dem dritten Reich, sondern auch in Bezug auf Gemeinschaft und Echtheit des Glaubens. Immer wieder greife ich auch zu den Auslegungen des katholischen Theologen Romano Guardini in seinem Buch «Der Herr». Er hat eine besondere Gabe, alle vier Evangelienberichte miteinander im Blick zu haben. Nicht zuletzt hat mich John Piper geprägt, ein US-amerikanischer Theologe und baptistischer Geistlicher, dessen ständige Suche nach der Freude im Glauben ich verinnerlicht habe. Was bedeutet Ihnen die Mystik?
Übernatürliche Erfahrung gehört für mich zur Beziehung mit Gott. Mein Glaube hat durch ein solches Erweckungserlebnis begonnen, als ich zwölf Jahre alt war. Nach einem christlichen Anlass hatte ich das starke Gefühl, dass Gott mit mir spricht. Weitere Erlebnisse hatte ich in meiner Schulzeit mit einer Bibelgruppe, deren Leitung ich unverhofft übernahm, nachdem ich mich als Christ geoutet hatte. Bibellesen und Predigtvorbereiten haben für mich immer mit diesem übernatürlichen Hören auf Gott zu tun. Wie stellen Sie sich das Jenseits vor?
Als Himmel und Hölle. Bei Himmel denke ich an die prächtige Stadt voller Licht, die in der Bibel das «neue Jerusalem» genannt wird. In ihr sind Menschen auf ewig zu Hause. Dabei kann man sich das Wohnrecht nicht verdienen. Die gute Nachricht ist, dass Gott Sünder einlädt, ihnen vergibt und all denen den Himmel schenkt, die sich vom Bösen abwenden und seine Nähe suchen. Wir haben aber die Freiheit zu wählen. Wer nicht bei Gott sein will, geht woanders hin. Das ist dann die Hölle. Wohin bewegt sich die Welt?
Wir leiden zunehmend unter der Dauerflut der globalen Meldungen und Themen. Das führt aber nicht zu mehr Weite, sondern verengt unsere Wahrnehmung auf Probleme und Krisen. Erstaunlicherweise ist die Apokalypse heute ein Thema, das von säkularen Botschaftern gepredigt wird, nicht von Theologen. Ich wünschte mir, es gäbe eine Renaissance des Glaubens in unserer Gesellschaft. Denn die biblische Apokalypse ist keine Untergangsbotschaft. Im Gegenteil wird im letzten Buch des Neuen Testaments deutlich, dass Gott über das Böse siegt und eine neue, gute Welt kommen wird. Mit dieser Hoffnung kann man immer wieder im Kleinen wirken, ohne zu verzweifeln. Und wohin bewegen Sie sich?
Nicht weg aus dem Klosterdorf (lacht), hier gefällt es mir zu gut. Das Gute ist, dass ich meine neue Arbeit von hier aus antreten kann. Um aber dem zukünftigen Pfarrer der FEG Einsiedeln nicht unnötig dreinzureden, werde ich mich einer anderen FEG in der Region anschliessen. Am Sonntag, 21. Juni, um 10 Uhr, werde ich meinen Abschiedsgottesdienst im Zentrum Waldstatt haben. An diesem Sonntag predige ich über einen meiner Lieblingstexte aus der Bergpredigt: «Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.»
Ein Blick zurück mit Dankbarkeit: Samuel Rath, Pfarrer in der Freien Evangelischen Gemeinde in Einsiedeln, geht aufrechten Herzens seinen Weg weiter. Fürs Erste führt ihn diesen hinaus aus dem Zentrum Waldstatt.
Foto: Magnus Leibundgut