Sprache als Identität
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SEITENBLICK: DAZWISCHEN
«Sprache ist nur ein Teil der Welt, sie ist nicht die Welt. Sie ist nur die menschliche Art, Dinge zu verste-hen. » Dieses Zitat habe ich vor Kurzem vom nigerianischen Philosophen Bayo Akomolafe gehört: Eine Aussage, die mich beschäftigt und mich etwas tiefer darüber nachdenken lässt, was Sprache eigentlich für uns heute bedeutet.
Mir ist klar, dass Sprache nur Mittel zum Zweck ist, auch wenn dies heute oft vergessen geht. Besonders, wenn Sprache in den aktuellen Themen als Ideologie und Bekenntniszwang benutzt wird, kein «Dazwischen » mehr möglich zu sein scheint. Doch was genau bedeutet Akomolafes Aussage wirklich? Ist nicht die Sprache unsere Identität? Spiegelt Sprache nicht unsere kulturellen Eigenschaften und Verbundenheit zu einem Ort, einer Gesellschaft wider? Und – letztlich die Welt oder zumindest meine Welt? Und warum sollte sie damit nur ein Teil des Ganzen sein?
Der Sprache wird besonders in der heutigen Zeit viel Bedeutung und Gewicht beigemessen, so dass sie doch unmöglich einfach «nur eine menschliche Art» ist, Dinge zu verstehen. Besonders als gebürtiger Einsiedler ist meine Sprache und Aussprache bereits an der Grenze zum nächsten Kanton ein Thema: Immer wieder werde ich bei der Arbeit auf diese angesprochen. – Da muss die Welt doch ganz schön klein sein, frag ich mich.
Spätestens bei einem längeren Aufenthalt in Berlin wurde mir eines ebenso deutlich klar: Auch wenn die Unterschiede vergleichsweise klein sind, Hochdeutsch ist eine Fremdsprache für mich. Demnach ist unser Schweizerdeutsch eine eigene Sprache?
Bereits im Kleinen zeigt sich, dass unsere Sprache Identität ist: Durch sie spüre ich eine Zugehörigkeit, und es fällt uns auch besonders leicht, durch Sprache eine Abgrenzung zu mir und anderen zu ziehen (Identität, lateinisch Idem, «derselbe »). Im Klima von kultureller Aneignung und politischer Korrektheit wird meine Sprache sehr schnell zum Balanceakt. Welche Wortwahl ist angebracht, wie inkludiere ich verschiedene Identitäten und übernehme nicht alte Stereotypen und wie drücke ich eigentlich wirklich etwas aus, um das zu formulieren, was ich meine und fühle oder meine zu fühlen?
Meine persönliche Wahrnehmung ist, dass unsere westliche Welt seit Langem in einer Identitätskrise lebt. Ist dieser Ausdruck zu hoch gegriffen? Wohl kaum. Unruhige Zeiten von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt lassen an unseren Identitätsbildern zittern. Selbst in unserer idyllischen Landschaft von Sihlsee, Bergwelt und Dorfgemeinschaft las-sen die globalen Veränderungen niemanden mehr gleichgültig.
Deshalb tendieren wir dazu, die Komplexität unserer Welt zu vereinfachen oder man könnte auch sagen zu reduzieren – um zu verste-hen, besser einordnen zu können und Klarheit zu schaffen. Kategorien, Strukturen und Wiederholung geben uns in dieser schnell vorangehenden Welt eine Sicherheit. Niemand weiss dies besser als unser traditionsreicher Ort Einsiedeln. Alljährlich wiederkehrende Feste und Bräuche folgen klaren Abläufen von Mustern. Sie tragen durch die soziale Komponente dazu bei, dass ich mich mit verschiedenen Menschen oder Gruppen identifizieren kann, mich heimisch und verbunden fühle mit einem Ort.
Die wohl prägendste dieser Traditionen ist die Fasnacht, zumindest für mich. Nicht nur wegen den tiefgreifenden Urklängen der «Trychler », sondern auch weil sich hier die Hierarchie auflöst. Die Welt wird auf den Kopf gestellt, und Identitäten verschwimmen. Eine landesübergreifende und lange Tradition, die sich sehr stark mit Identität und den grossen Lebensfragen befasst und die sich dieses Jahr zum hundertsten Mal jährt, ist das «Grosse Welt-theater ». Ein Stück, das ursprünglich von einem Spanier, Pedro Calderón de la Barca, geschrieben wurde und das in seinem Original klare Rollen – sprich Identitäten – vorgibt: Unüberwindbare Stereotypen, die aus einem stark kirchlich geprägten Weltbild vorangehen und schon lange überaltert sind.Wir dürfen gespannt sein auf die neue Ausgabe des «Grossen Welttheaters 2024».
Längst ist die Vielfalt von Identitäten zahlreich, sind die Vorgaben unserer Institutionen von Kirche und Staat nicht mehr massgebend. Mittlerweile sind weit grössere Einflüsse von sogenannten «sozialen Netzwerken » relevant. So macht es den Anschein oder suggerieren es uns zumindest unsere Medien.
Doch wie frei ist diese Wahl von eigener Identität und gibt es die Möglichkeit, frei zu wählen? Was zeichnet mich aus und macht mich zu dem, was ich bin? Und werde ich vielleicht nicht auch durch andere zu meiner eigenen Identität, also ein Körper, ein Mensch geformt durch verschiedene Einflüsse meiner Umwelt?
Doch zurück zur Sprache. Wenn ich etwas über Sprache gelernt habe, dann, dass sie kein fixes Konstrukt ist, sondern eine sich stetig verändernde, fliessende Konstante in unserem Leben: Eine erste Sprache, unsere eigene Muttersprache, die uns seit Beginn auf dieser Erde begleitet und die meine Identität zwar auszeichnet, aber nicht abschliessend definiert – Sprache also als perfektes Sinnbild für Identität.
Jede Sprache der Welt ist beeinflusst vom kulturellen Austausch zwischen Menschen. Worte werden ausgeliehen, weiterentwickelt und neu gedacht. Eine Sprache zu sprechen heisst jedoch noch lange nicht, sie auch zu verstehen.
Was Bayo Akomolafe also mit seiner Aussage meint, ist vielmehr, dass Sprache nur ein Teil unserer Welt, im Sinne von unserer eigenen Identität, unserem Ich, ist, um die wir uns selber drehen. Identität geht jedoch von viel grösseren Dingen aus: Von einer uns vielleicht bisher unbekannten oder einer abhanden gekommenen Verbundenheit zu unserer Natur. Für die wir, insbesondere in unseren westlichen Welt, die Sprache neu erlernen müssen.
Pascal Nathanael Haefeli ist freischaffender Journalist und Eventmitarbeiter im «The Dolder Grand» und im ältesten vegetarischen Restaurant «Hiltl» in Zürich. Im Sommer eröffnet er zusammen mit Christian Schönbächler das neue «Café Paradies» am Sihlsee. Nebst seinen ausgedehnten Reisen in Europa, Südamerika und Afrika macht er sich Gedanken über die philosophischen Grundsätze des Alltags.