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Auf der Suche nach der verlorenen Anschauung

Auf der Suche nach der verlorenen Anschauung Auf der Suche nach der verlorenen Anschauung

12. Architektur-Kolloquium der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin

28 Referenten und Referentinnen – Archäologen, Kunst- und Architekturhistoriker sowie Architekten aus 8 Nationen – traten in Einsiedeln auf, um sich mit dem Verhältnis von Text und Bild in der architekturtheoretischen Traktatliteratur von Vitruv bis in die Moderne auseinanderzusetzen. Zur Sprache kam auch die Zukunft der Einsiedler Bibliothek.

Oft bemerkt man erst nachträglich, wie quälend Verluste vertrauter Dinge sich auswirken. Solches Gefühl kann einzelne Personen betreffen oder ganze kulturelle Gemeinschaften. Die Ursachen mögen vielfältig sein. Sie reichen von blosser Unachtsamkeit bis zu gezielter Beseitigung. Das Kolloquium zum Thema Text und Bild setzte bei solch exemplarischen Verlustfällen an: bei den fehlenden Illustrationen der antiken Bauliteratur und zum Werk des römischen Architekten Vitruv.

Damit war die Grundlagenfrage der weiteren Vorträge und Gespräche gestellt: Was können wir heute noch von den Vor- und Darstellungsweisen der Antike und Folgezeiten erschliessen? Wie gross sind die Spielräume unseres Nicht-Wissens?

Die geradezu kriminalistische Erforschung der Methoden zur Bemessung der berühmten Basis- Kurvaturen griechischer Tempel zeigte, dass bereits in der Antike Näherungslösungen – statt lang durchhängender Seil-Parabeln geraffte Mass-Diagramme – benutzt wurden, um Bauwerke in der sphärischen Wahrnehmungswelt unserer Augenkugeln standfest erscheinen zu lassen. Verlangen nach Festigkeit (firmitas) und filmische Beweglichkeit des binokularen Sehens entlarvten einäugige Fluchtpunktperspektiven als abstrakte Wunschvorstellung. Dagegen erwiesen sich die kontinuierlichen Darstellungsformen der Vor-Neuzeit als verblüffende Vorwegnahmen moderner Wahrnehmungsforschung.

Auf solch einleitende Durchsichten folgten dreitägige Präsentationen und Diskussionen, die sich im fruchtbaren Ideenaustausch zwischen zahlreichen jüngeren und einigen älteren Geladenen lebhaft entwickelten. Leitfiguren dieser mehrsprachigen akademischen Dispute waren stets die Verhältnisse von Texten und Bildern, sei es in den Entwürfen von Architektur als Schrift oder eben in der alten Disziplin literarisch beschreibender Ekphrasis sowie den neueren Kommunikationsformen anschaulicher Argumentation und Oralität. Dabei tauchte immer wieder die grundlegende Tatsache auf, dass unsere Sprachen auch schon für sich mit gleichnishaften Bildern gesättigt sind. Umso mehr konnten dann freiere Bildbeigaben in Architektur-Traktaten zu Stolpersteinen fürs Nachdenken werden.

Ins akademische Visier rückten mit der Programm-Abrundung zur Neuzeit hin neben Otto Wagners grandiosen Wien-Entwürfen unter anderem auch die Sullivanesken Sonderblüten der bald verpönten Gründerzeitund Jugendstil-Ornamentik, die speziell an wohlbekannte, aber oft verschwiegene Drogen-Inspirationen (Haschisch-Mescalin- LSD & c) denken liessen. Im Ausblick auf die Gegenwart aufgeboten wurden schliesslich die aus der organischen Molekülwelt transplantierten, mittlerweile «viralen» memes, die der englische Evolutionstheoretiker Richard Dawkins 1973 in die Welt setzte – allerdings erklärtermassen als veritable Bewusstseinsparasiten, die Menschen nur als Wirtspersonen für ihre epidemische Verbreitung benutzen. Eine Epidemologie der elektronischen Bilder ist überfällig.

Die Frage zum Fortbestand Das Kolloquium endete mit nachdenklichen Überlegungen und Kommentaren zum dramatischen Wandel, der mit dem Siegeszug elektronischer Medien eingesetzt hat. Anfängliche Euphorie scheint zunehmend von Besorgnissen überlagert – nicht zuletzt wegen der Lebensdauer derzeit verfügbarer Datenträger. Vor allem aber muss ein fundamentaler Umbruch im Umgang mit historischen Quellen und Relikten bewältigt werden: Das so ergiebige Stöbern in den ‹Müllhalden der Internet-Recherchen› kann die historisch gewachsenen Strukturen des Bücher-Wissens nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Und so ist schliesslich auch die Frage nach dem Fortbestand der Oechslin- Bibliothek als Forschungsund Diskussionsort zur Sprache gekommen; sie lässt sich auf einen Satz zuspitzen: Werden es die Schweizer zulassen, dass ihr einzigartiges maison cer-veau stranguliert wird?

Foto: zvg

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