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Adeus Dili!

Adeus Dili! Adeus Dili!

BRIEF OSTTIOMOR

Heute schreibe ich den letzten Brief aus Osttimor. Ich werde es vermissen, jeden Tag das Meer zu sehen. Eine frische Kokosnuss zu trinken. Im Garten vor meiner Haustür eine reife Mango zu pflücken. Am frühen Morgen den Speerfischern zu begegnen. Es wird mir fehlen, wie sich manches Wochenende wie ein grosses Ferienlager anfühlt.Wie gross die Freude sein kann, wenn ein Frachtschiff anlegt und langersehntes Joghurt oder Broccoli bringt. Wie dunkel die Nächte und nahe die Milchstrasse sein können. Wie atemberaubend schön die Korallenriffe sind. Wie spannend und gleichzeitig anstrengend die Arbeit auf der Welt-bank sein kann.

Nicht vermissen werde ich es, ständig auf der Hut vor Mücken zu sein. Oder in klimatisierten Räumen. Wie die Kanäle und Abfallberge auf offener Strasse stinken. Wie man überall Wasser schöpfen muss, um die Toilette zu spülen. Wie schwierig es sein kann, ständig mit Armut konfrontiert zu sein. Und den Privilegien als Ausländerin.

Gelernt habe ich, dass das Internet am Sonntagmorgen am schnellsten ist, wenn alle Timoresen den Gottesdienst besuchen. Dass frische Fische am besten an die Seitenspiegel des Autos gehängt werden. Dass ein Blauwal grösser ist als ein Gelenkbus. Dass es Zigaretten, Chips und die katholische Kirche überall hinschaffen. Dass man ausserhalb von Dili immer Wasser, Essen und Toilettenpapier dabeihaben sollte. Und mehr Wein als man denkt. Dass sich Antworten erst mit der Zeit ergeben. Dass ich manchmal geglaubt habe, etwas verstanden zu haben, um kurz darauf von komplett neuen Erkenntnissen überrascht zu werden. Dass Dinge hier anders, langsamer oder gar nicht funktionieren. Dass nichts einfach ist. Und viele weitermachen, gerade weil es nicht einfach ist.

Jetzt freue ich mich darauf, mich in der Schweiz abends wieder draussen aufhalten zu können. Auf die vier Jahreszeiten. Aufs trinkbare Hahnenwasser. Und darauf, dass wir in unserer Kultur Konflikte mit Worten lösen können. Vier grosse Privilegien, denen wir Sorge tragen sollten.

Ich bin mit grosser Vorfreude nach Dili gekommen. So wie ein Stück meines Herzens in der Schweiz geblieben ist, bleibt jetzt ein kleines Stück hier in Osttimor. Es gehört der schönen Landschaft unter und über dem Wasser, den atemberaubenden Blauwalen und ganz besonders den wunderbaren Menschen. – Und es gehört dem Wunsch, dass das Land seine Herausforderungen meistern möge. Im Heute für morgen. Adeus Dili!

* Die Einsiedlerin Junia Landtwing (*1995) war seit Mitte März 2023 während zwölf Monaten auf der Weltbank in Dili, Osttimor, stationiert. Dabei war sie in Entwicklungs- und Aufbauprojekte in den Bereichen Gesundheit und Bildung involviert. Von ihrer Arbeit, ihren Erfahrungen und Erlebnissen berichtete sie hier.

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