Das Monatsgespräch im Januar
Franziska Keller trifft Reto Hensler, vielen als Sagekaris Reto bekannt
Jahrgang: 1963 Geburtsort: Einsiedeln Wohnort: Einsiedeln Anfang Januar treffe ich mich mit Reto Hensler. Wir kennen uns schon sehr lange – woher wis-sen wir beide nicht mehr so genau. Eine Begegnung war sicher vor vielen Jahren an der Chilbi beim Meerschweinchenrennen, als ich 1 Kilogramm Mehl gewann und Reto bei der Übergabe meinte: «Lüütisch a, wänn de Chueche fertig isch», und ich die Henslers dann tatsächlich zu Kaffee und Kuchen eingeladen habe. Auch wenn ich meine Gesprächspartner und -partnerinnen kenne, werden die Gespräche künftig in der «Sie»-Form verfasst.
Sagekaris Reto – warum kennt man Sie unter diesem Übernamen?
Weil unser Henslerstamm zu den Sagis gehörte. Woher das genau kommt, weiss ich nicht so genau, wahrscheinlich war einer meiner Vorfahren ein Sager. In unserem Familienwappen findet sich ein Kehlholz, da gibt es offenbar einen Bezug zum hölzigen Gewerbe. Früher hatten die meisten Familiennamen einen Zusatz, zum Beispiel: Brägels, Naslis, s’Länze et cetera, damit man wusste, von wem gesprochen wird.
Wofür fliesst Ihr Herzblut hier in Einsiedeln?
Einsiedeln ist für mich mehr als Heimat, Einsiedeln ist für mich mein Ein und Alles. Ich bin hier aufgewachsen und ich lebe, engagiere mich hier in verschiedenen Bereichen. Einsiedeln hat meiner Meinung nach eine wahnsinnige Vielfalt und einen sehr starken Zusammenhalt (offensichtlich in unseren grossen Vereinstätigkeiten). Auch wenn hier nicht alles «Gold ist, was glänzt», ist es eine typische Kultur von hier, dass man noch aufeinander zählen kann. Woher nehmen Sie all die Energie, um sich so stark für die Gemeinschaft zu engagieren?
Das frage ich mich manchmal auch. Ich habe sicherlich ein gutes Umfeld und ich hatte einen Vater, der mich diesbezüglich stark geprägt hat. Zudem kann ich nicht rumsitzen, sondern muss etwas tun; am liebsten etwas Kreatives mit Humor, das mir selbst Auszeit von meinem Job gibt.
Wo engagieren Sie sich?
Im Turnverein, bei den Tolggä, im Jodelclub und bei der Zunft – all dies ist für die Seele. Weitere sehr spannende Tätigkeiten sind die Mandate im Verwaltungsrat bei der Raiffeisenbank und der Gerbe. Hier erlebe ich die andere Seite meines Jobs und vor allem in der Gerbe kann ich mich durch meine Tätigkeit als Berufsbeistand fachlich gut einbringen. Was hat sich in der Vereinstätigkeit im Laufe der letzten Jahre verändert? Früher kannte jeder jeden, was inzwischen nicht mehr so ist, Einsiedeln wird grösser und anonymer. In meinen Vereinen erlebe ich jedoch wenig Veränderungen, vermutlich finden solche allgemein weniger in den Vereinen statt. Erfreulich ist, dass sich viele Junge stark in den Vereinen engagieren und diese am Leben erhalten. Vielleicht kommen durch den Zustrom der «Fremden» (das soll nicht abwertend tönen) aber gewisse Traditionen unter Druck, weil man sie zu wenig versteht. Daher bin ich ein vehementer Verfechter, dass wir zu unseren Traditionen stehen, sie wieder gesellschaftstauglich machen und, wie es eine der Aufgaben der Zunft ist, eine Brücke zwischen Dorf und Kloster schaffen. Sie haben erwähnt, dass Sie Berufsbeistand sind. Welches sind schöne, welches unangenehme Seiten Ihres Alltags? Schön ist: Wir sind im Leben der Menschen und versuchen zu helfen. Weniger angenehm ist, dass unsere Hilfe nicht immer willkommen ist, wir auch mit Wider-stand aus der Gesellschaft zu kämpfen haben. Die Kesb etwa wurde durch die Politik zu einem Ungeheuer gemacht, obwohl sie eine ganz wichtige Funktion hat und mancher würde staunen, wenn ihm bewusst wäre, was da alles an Gutem abgeht.
Für mich persönlich sind streitende Familien, bei denen die Kinder die Leidtragenden sind, ganz ohnmächtige, oft ausweglose Situationen, die wirklich schwer zu ertragen sind. Deshalb brauche ich meine Ventile. Wie hat sich «Familie» verändert und was könnte Einfluss haben? Dieselben oder ähnliche Probleme hat es sicherlich schon früher gegeben, aber heute wird mit Recht anders hingeschaut. Früher hatte die Vormundschaftsbehörde, als Gemeindegremium durch Laien geführt, einen anderen Auftrag als die Kesb heute, welche ein Fachgremium ist. Vieles blieb auch aus finanziellen Nöten auf der Strecke, im Kanton Schwyz gibt es zudem grosse politische Widerstände und wir haben keine Lobby. All dies erschwert unsere Arbeit. Wie nehmen Sie den Alltag in Einsiedeln wahr? Ein gut funktionierendes Dorfleben mit einer guten Ausgangslage, um ein gutes Leben mit einer guten Infrastruktur zu verbringen.
Wo wäre Entwicklung nötig?
Wir investieren sehr viel Geld in Schulen und Strassen. Bitte nicht falsch verstehen, ich bin ganz dafür, für Kinder die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, jedoch bedaure ich im Gegenzug, dass in anderen Bereichen viel aus privater Initiative wachsen muss; etwa beim Sportzentrum oder beim FC, es gäbe da noch viele Beispiele. Diesbezüglich sollte sich unbedingt etwas ändern. Warum kommen Menschen gerne nach Einsiedeln? Wir haben eine schöne, voralpine Lage, eingebettet in eine wunderbare Natur. Dies ist eine ide-ale Ausgangslage und bietet viele Möglichkeiten. Im Moment besteht noch eine gute Gastronomie, die durch den sich verändernden Pilgertourismus jedoch stark abgenommen hat. Früher standen jede Woche Pilgerzüge auf den Perrons und die Pilger übernachteten hier. Dies hat sich massiv verändert, hin zu einem Tagestourismus. Eine Gesundschrumpfung ist daher verständlich, jedoch finde ich, dass man aus dieser neuen Ausgangslage viel mehr aus Einsiedeln herausholen könnte. Die Frage ist nur: Wo soll man anfangen? Wie hat sich das Leben in Einsiedeln seit Ihrer Kindheit verändert?
Das Dorf hat sich grundlegend verändert und es ist seit meiner Kindheit – nicht nur im Positiven – extrem gewachsen. Ich finde, man darf auch mal sagen: So, jetzt reicht’s. Einsiedeln und seine Traditionen entwickeln sich, ob es die richtige Richtung ist, sei dahingestellt. Aber bestimmt ist das Leben hier lebenswert. Da ich immer hier gewesen bin, habe ich diese schleichenden Veränderungen hautnah miterlebt.
Erzählen Sie uns doch bitte ein paar Episoden von früher … was hat klein Reto damals angestellt?
Der war ein «huere Schlitzohr», aber immer aufgestellt. Ich wäre früher bestimmt mit Ritalin behandelt worden (lacht), weil ich auf dem Pausenplatz als Unruhestifter und ab und zu auch durch Prügeleien auffiel. Ich machte meinen Weg, durchlief die Schulzeit, war aber sicher kein einfacher Junge und es musste immer etwas laufen. Ich glaube, der grosse Einschnitt in meinem Leben war, als ich in die Lehre kam und mein Vater unerwartet starb. Meine Mutter stand von einem Tag auf den anderen mit vier Kindern alleine da. Diese Situation prägte mich und liess mich ruhiger, vermutlich auch vernünftiger werden. Was wird sich Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren – allgemein und hier im Bezirk – weiter verändern? Wir müssen in unsere Verkehrspolitik investieren. Seit 20 Jahren plädiere ich dafür, dass man das Dorf attraktiver machen und den Verkehr abhalten soll, weil wir sonst eines Tages ersticken. Meine Vision ist, dass man über der Kläranlage ein Parkhaus baut, ein Pendlerzügli einrichtet und die Leute so ins Dorf bringt.
Jetzt freue ich mich mal auf die Testphase im Frühling mit der autofreien Hauptstrasse an den Wochenenden und auf ein schlaues Verwaltungsgebäude. Das sind Investitionen in die Zukunft, denn Einsiedeln wird vermutlich weiterhin wachsen, darauf müssen wir uns vorbereiten und dabei mit der Zeit gehen. Und was steht noch auf Ihrer persönlichen Liste? Träume habe ich «en Huufe». Ich habe bisher ohne Auszeit immer gearbeitet, bin «fäärig» 60 geworden und mein Ziel ist, in naher Zukunft beruflich etwas kürzerzutreten, um mit Lisbeth und mit unserem Wohnmobil die Welt zu entdecken und am Morgen ohne Pendenzen aufstehen zu können und in den Tag «ine läbe». Gewisse Ämtli dürfen schon noch da sein, aber ich freue mich aufs «frii si» und hoffe natürlich, «gsund z’bliibe».
Von Franziska Keller