«Freiwilligenarbeit ist für die Gesellschaft eine Notwendigkeit»
Thomas Jud ist der erste Koordinator des Vereins Nachbarschaftshilfe KISS Einsiedeln. Er steht Red und Antwort zur Bedeutung der Freiwilligenarbeit in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche: «Wir sind in Einsiedeln in der privilegierten Lage, dass hierzulande die Freiwilligenarbeit noch funktioniert.»
Wie sind Sie bei KISS gelandet?
Ich interessiere mich sehr für die Freiwilligenarbeit und bin auf ein Inserat von KISS im Einsiedler Anzeiger gestossen: Der Verein war auf der Suche nach einem Koordinator. Weil ich als Chefpsychologe beim Rekrutierungszentrum in Mels in einem 80-Prozent-Pensum beschäftigt bin, passt ein 20-Prozent-Pensum in Diensten von KISS Einsiedeln perfekt. KISS («Keep it small and simple») leistet Nachbarschaftshilfe durch Freiwilligenarbeit: Das ist genau das, wonach ich gesucht habe.
Können Sie Ihre Arbeit als Koordinator von KISS beschreiben? Ich bin die Schaltstelle für die momentan bereits achtzig Mitglieder des Vereins KISS. Der Koordinator führt mit jedem Neumitglied ein Aufnahmegespräch, um dessen Lebensumstände und Bedürfnisse kennenzulernen. Er stellt die leistungserbringende Person und die leistungsempfangende Person zu einem «Tandem» zusammen. Vorgängig lernen sich die beiden unter Begleitung des Koordinators kennen und werden während des Jahres durch mich begleitet. Ich vernetze KISS mit Organisationen in verwandten und ergänzenden Bereichen: Wie zum Beispiel mit der Spit-ex, dem Besuchs- und Begleitdienst, den beiden Alters- und Pflegeheimen, Pro Senectute, Unterstützungsdienst SRK oder auch mit «Einsiedle mitenand».
Welche Jobs übernimmt KISS?
Ein Kernelement bei der KISS-Nachbarschaftshilfe sind bekanntlich die Tandems. Das heisst, eine Person fragt um Unterstützung und eine andere Person ist bereit, diese Unterstützung zu leisten. Ein besonderes Merkmal der Nachbarschaftshilfe von KISS ist, dass sie für Jung und Alt da ist und auch generationenübergreifende Tandems bildet. Momentan wird vor allem die Unterstützung von betagten Menschen nachgefragt. Doch auch in Familien mit Kindern kann Hilfe willkommen sein. Im Vordergrund stehen längere Unterstützungen. KISS ist jedoch flexibel und bereit, auch kurzfristig Hilfe zu leisten – zum Beispiel nach einem Spitalaufenthalt oder Unfall.
Was heisst das konkret?
Konkrete Beispiele für Jobs sind etwa Begleitung beim Einkaufen, gemeinsames Kochen, Hilfe beim Beziehen des Bettes, Glühbirnen ersetzen, Antworten auf rechtliche Fragen oder simples Zuhören. All das ist für ältere Menschen alleine oft nicht mehr machbar. Solche Unterstützung hilft, dass dadurch ein Wohnen zu Hause länger möglich ist. Damit verbunden sind auch der gegenseitige Kontakt, Gespräche und Abwechslung. Andererseits fördert KISS auch Anlässe, um den Zusammenhalt unter den Mitgliedern zu stärken. Dies wird «KISS Kitt» genannt: So zum Beispiel ein monatliches «KISS-Kaffee», an dem Ideen für gemeinsame Aktivitäten geplant werden können: Besichtigungen, Wanderungen, ein Sonntagnachmittagstreff, ein periodischer Senior- Digital-Treff, täglich die Rufan- Aktion und vieles andere. Welche Rolle spielen die Zeitnachweise?
Ein Charakteristikum der Zeitnachweise ist, dass die Mitglieder die Zeit, während der sie Nachbarschaftshilfe leis-ten, gutgeschrieben erhalten. Geld fliesst bei der Freiwilligenarbeit von KISS nicht. Die einzelnen Mitglieder erhalten als Anerkennung die Zeitnachweise für sich gutgeschrieben. Wer dann aufgrund eines Unfalls oder im Betagtenalter vom Leistungserbringer zum Leistungsempfänger wechselt, hat diese Zeit zugute. KISS kann als Organisation mit dem Total der geleisteten Stunden den erbrachten Wert an Freiwilligenarbeit für die Gesellschaft ausweisen, wodurch die Anerkennung und der Status der Freiwilligenarbeit gestärkt wird. Freiwilligenarbeit ist für die Gesellschaft eine Notwendigkeit – und nicht einfach eine Wohltätigkeitsaktion. Durch KISS wird die Freiwilligenarbeit wertgeschätzt und sichtbar. Welche Bedeutung hat für Sie selber die Freiwilligenarbeit? Ich messe der Freiwilligenarbeit eine grosse Bedeutung zu. Wir sind in Einsiedeln in der privilegierten Lage, dass hierzulande die Freiwilligenarbeit noch funktioniert. Im Klosterdorf war es schon immer so, dass man sich untereinander ausgeholfen hat. Das ist gelebte Solidarität – umso mehr müssen wir der Freiwilligenarbeit Sorge tragen. In anonymen Städten und Agglomerationen, in denen nur wenige ihre Nachbarn kennen und sich die Leute kaum mehr persönlich kennen, hat die Freiwilligenarbeit einen schweren Stand.
Aus welchen Gründen sinkt die Zahl der Freiwilligen in unserer Gesellschaft? Das Interesse an Freiwilligenarbeit in der Schweizer Gesellschaft ist generell gross. Trotzdem wissen viele nicht, wo und wie sie sich sinnstiftend engagieren können. KISS Einsiedeln reicht ihnen hier auf vielseitige Weise die Hand. Technische Errungenschaften führen manchmal dazu, dass sich das Rad der Zeit immer schneller dreht. Die Ansprüche in der Arbeitswelt steigen fortlaufend, sodass immer weniger Zeit zur Verfügung steht, um Freiwilligenarbeit zu leisten. Viele fühlen sich aufgrund von Zeitmangel gestresst – teilweise auch in ihrer Freizeitgestaltung. Die Individualisierung hat Vor- wie Nachteile, kann jedoch auch zu einer überhandnehmenden Vereinzelung führen. Dies betrifft sowohl das höhere Alter als auch die jungen Erwachsenen. Das Gemeinschaftliche wird in unserer Gesellschaft künftig noch wichtiger werden. Die (gemeinsame) Zeit ist und bleibt ein kostbares Gut.
Seit Jahrzehnten ist der Individualismus auf dem Vormarsch. Erkennen Sie Anzeichen einer Trendwende, auf dass das Gemeinschaftliche wieder an Terrain gewinnt?
Dass wir bereits über achtzig Mitglieder sind bei KISS Einsiedeln, ist zumindest ein hoffnungsvolles Zeichen. Es ist wohl verfrüht, bereits von einer Trendwende zu sprechen. Unsere Gesellschaft ist stark gefordert, Gemeinschaft zu fördern – auch in Anbetracht der demografischen Entwicklung. Ist das Klosterdorf in Sachen Freiwilligenarbeit besser aufgestellt als vergleichbare Ortschaften, weil es in Einsiedeln ein reges Vereinsleben gibt? In der Tat spielen Vereine eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Dorflebens in Einsiedeln: Vereine sind nicht wegzudenken aus unserem Dorfgeist. Und Vereinsarbeit ist Freiwilligenarbeit. Allerdings gilt es auch hierzulande aufzupassen, dass Nachwuchssorgen der Vereine nicht überborden. Chöre leiden unter Nachwuchsproblemen und ebenso Gemeinden, wenn ihnen Leute für die Ämter fehlen.
Mit welcher Begründung lehnt der Bezirksrat einen jährlichen Beitrag an KISS ab? Freiwilligenarbeit sei wichtig, meint der Bezirk: In Einsiedeln gebe es jedoch bereits ein brei-tes Angebot, das finanziell unterstützt werde. Mit KISS entstehe eine neue Organisation, die im überwiegenden Teil Leistungen anbiete, die bereits angeboten würden. Zudem müssten jene, die Unterstützung erhalten, keinen finanziellen Beitrag leisten, dadurch bestünde die Gefahr, dass Leistungen erbracht würden, die keiner Notwendigkeit entspringen oder von den Empfängern individuell selber bezahlt werden könnten.
Das ist nicht korrekt?
Nein. Die von KISS Einsiedeln angebotene, ganz praktische Nachbarschaftshilfe ist Hilfe für die Bewältigung des Alltags. Zudem hat sich der Vorstand seit einem Jahr immer wieder mit den anderen Organisationen ausgetauscht und abgesprochen. Die Unterstützung durch den Kanton Schwyz, die katholische Kirchgemeinde und die Freie Evangelische Gemeinde wurde mit grossem Wohlwollen aufgenommen. Mit meiner Arbeitsaufnahme kann einem weiteren Kreis von möglichen Gönnern und Sponsoren gezeigt werden, dass KISS nun auch in Einsiedeln operativ ist. Ich bin guten Mutes,dass der Bezirk über die Bücher gehen wird, wenn er erkennt, welch wertvolle Arbeit KISS Einsiedeln zu leisten imstande ist.
Erfreulicher Aufmarsch an der ersten Mitgliederversammlung des Vereins Nachbarschaftshilfe KISS Einsiedeln. Fotos: zvg