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«Die Aufhebung des Zölibats wäre sicher eine Option»

«Die Aufhebung des Zölibats  wäre sicher eine Option» «Die Aufhebung des Zölibats  wäre sicher eine Option»

Im Interview spricht der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain über die Missbrauchsfälle, das Leiden und den Schmerz der Opfer und wie die katholische Kirche jetzt handeln könnte.

Vor zwei Monaten haben Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche aufgewiesen. Die Täter: Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige. Damals sagte Bischof Joseph Maria Bonnemain, die katholische Kirche müsse einen kulturellen Wandel vollziehen und zu ihrer Kernbotschaft zurückkehren. Heute sagt er: «Tatsächlich haben wir in der Vergangenheit ein verzerrtes Bild der Frohbotschaft gezeigt.» Bischof Joseph Maria Bonne-main, in drei Wochen beginnt die Adventszeit. Advent bedeutet Ankunft und verweist auf die Ankunft Jesu Christi, dessen Geburt. Haben Sie in der aktuell schwierigen Phase für die katholische Kirche überhaupt Zeit, sich auf die Adventszeit zu freuen? Ich bin der Auffassung, dass wir uns im Grunde immer in einer Adventszeit befinden. Aber natürlich freue ich mich darauf, es ist wahrscheinlich sogar die Zeit, die ich am liebsten habe. Wir erwarten den, der uns rettet. Uns heilt. Uns glücklich macht. Wir erwarten, dass unsere Sehnsüchte, die wir im Herzen tragen, in Erfüllung gehen. Es geht um eine riesige Erwartungshaltung, die uns mit der Adventszeit verbindet. Gleichzeitig wissen wir aber aufgrund des Glaubens, dass die Verwirklichung der Erwartung schon da ist. Es findet eine Spannung zwischen Erwartung und Vollendung statt. So gesehen ist der Advent Warten und Erleben gleichzeitig. Das, was wir erwarten, hat schon stattgefunden. Dies macht den Advent so besonders.

Diese Bedeutung ist den meis-ten Menschen wohl nicht bewusst.

Deswegen sage ich, wir brauchen eine lebendige Kirche, die diese erfüllende Botschaft glaubwürdig verkündet. Statt einer lebendigen Kirche haben wir aber eine, die we-gen des Missbrauchsskandals auf der Anklagebank sitzt. Wie schmerzhaft ist das für Sie? Es spielt keine Rolle, wie schmerzhaft das für mich ist. Ausschlaggebend ist die Frage, wie schmerzhaft es für die Menschen ist. Was ich empfinde, ist unwichtig. Wir müssen zurückschauen, die Ursachen dieses Schmerzes herauskristallisieren. Wir dürfen nicht ausblenden, dass viele Menschen unter dem sexuellen Missbrauch gelitten haben. Viele sind enttäuscht von uns. Schmerzhaft für mich ist deshalb auch, dass wir zum Teil blockiert sind, um die frohe Nachricht des Advents zu verkünden.

Wie schwierig ist der direkte Kontakt mit Opfern von sexuellem Missbrauch durch die katholische Kirche? Können Sie überhaupt in irgendeiner Art helfen? Wenn ich behaupten würde, dass ich eine Lösung parat habe, wäre das anmassend. Die Betroffenen haben ihr Leben lang gelitten. Ich war 37 Jahre in der Spitalfürsorge tätig. Ich hatte mit Tausenden von leidenden, von einsamen und von sterbenden Menschen zu tun. Ich behaupte nicht, dass ich immer die richtigen Worte gefunden habe, aber die Bereitschaft zuzuhören, nicht davonzulaufen, die habe ich. Ich kann den Betroffenen von Missbrauch zumindest zeigen, dass ich zuhöre. Ich versuche, ihr Leid, ihr Unverständnis und auch ihre Wut entgegenzunehmen. Es tut weh, zu erleben, was sie alles erlitten haben, diesen Schmerz darf ich mir nicht ersparen. Die katholische Kirche Zürich, die zum Bistum Chur gehört, hat eine Meldestelle für Missbrauchsopfer initiiert. Eine gute Sache?

Ja, die Opfervereinigungen befürworten eine solche Stelle. Und die Bischofskonferenz will eine nationale Meldestelle einrichten. Aber die grosse Herausforderung ist und bleibt, wie bringen wir eine solche Meldestelle zustande, dass sie eine wirkliche Hilfe für die Betroffenen ist und nicht einfach eine zusätzliche Instanz? Mit der technischen Möglichkeit, eine Meldung entgegenzunehmen, ist es nicht getan. Es muss triagiert werden. Wir müssen auch kompetente Menschen haben, die weiterhelfen können, wenn es zu einer Anzeige kommt. Wir sind dran und möchten bis Ende Jahr Klarheit schaffen, wie die Meldestelle funktionieren muss. Ich betone nochmals: Es muss eine Hilfe für Betroffene sein und nicht eine zusätzliche Hürde. Eine ziemliche Herausforderung… Dieser sind wir uns bewusst. Um zu erreichen, dass eine solche Meldestelle wirklich hilfreich ist, arbeiten wir deshalb eng mit den zwei Organisationen von Betroffenen, Sapec und IG Miku, zusammen. Ich treffe alleine keine Entscheidungen, aber meiner Meinung nach sollten wir einen Leistungsauftrag mit einer professionellen und gut ausgestatteten Organisation vereinbaren. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise eine kantonale Opferhilfestelle. Wenn es um Missbrauch im katholischen Umfeld geht, wird fast immer das Zölibat dafür verantwortlich gemacht. Ist das nicht etwas zu einfach gedacht?

Es gibt bestimmt einen Zusammenhang, aber das Zölibat ist nicht die Hauptursache. Mittelfristig könnte die Aufhebung des Pflichtzölibats sicher eine Option sein. Dann könnten sich angehende Priester entscheiden, ob sie zölibatär leben oder heiraten wollen. Gut, aber damit ist das Problem nicht gelöst. Es bleibt notwendig zu sichern, dass jene, die sich für das Zölibat entscheiden, auch dafür geeignet sind. Wir müssen uns die Frage stellen, ob jene, die sich in der Vergangenheit für das Pflichtzölibat entschieden haben, auch wirklich für diese Art zu leben geeignet waren. Das ist die grosse Frage. Haben wir mehr Gewicht darauf gelegt, eine genügende Anzahl Priester zu haben, als zu schauen, ob ein Mensch ausgewogen ist? Reif für so ein Amt ist? Einen gesunden Bezug zur eigenen Sexualität hat und eine dementsprechende Affektivität zeigt? Empathie zeigen kann? Zölibatär zu leben, heisst eigentlich eine grössere Öffnung der Liebe zu vielen Menschen. Nicht die Reduktion der Liebesfähigkeit, sondern die Bereitschaft, wie Jesus, die ganze Welt mit einer Umarmung aufzufangen. Die katholische Kirche ist im Umbruch, schwierige Zeiten? Spannende Zeiten finde ich, eine Herausforderung. Ich habe schwierige Zeiten gesagt, Sie reden von spannenden Zeiten. Das tönt viel positiver. Auch zuversichtlicher. Das ist das Evangelium – eine Frohbotschaft für die Welt. Wenn Sie die Lage der heutigen Welt betrachten, was braucht sie ausser einer Frohbotschaft? Es geht um Zuversicht, Hoffnung und Erfüllung.

Katholikinnen und Katholiken verlassen ihre Kirche in Scharen. Wäre es eben nicht gerade in dieser spannenden Zeit, wie Sie sagen, wichtig, die Kirche zu unterstützen statt auszutreten?

Es geht nicht um die Treue der Institution Kirche gegenüber, es geht um die Treue zu den Menschen. Die Kirche ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Aber tatsächlich haben wir in der Vergangenheit ein verzerrtes Bild von dieser Frohbotschaft gezeigt, und ich verstehe, dass viele enttäuscht und resigniert aus der Kirche austreten. Ich würde gerne allen sagen, was Jesus zu Franz von Assisi gesagt hat: «Bitte baue meine Kirche wieder auf.» Wir brauchen wirklich dringend Christinnen und Christen, die bereit sind, in dieser Welt der Traurigkeit, des Hasses, der Kriege, der Diskriminierungen laut zu schreien: «Mensch, wage die Zukunft, das Leben ist schön.» Wir haben mit einem Gott zu tun, der uns liebt, der uns nicht im Stich lässt. Wir brauchen Menschen, die Missstände kritisieren, aber bereit sind, eine frische, lebendige, demütige, transparente, dienstbereite Kirche aufzubauen. Zum Schluss noch dies: Im Zuge der Zürcher Missbrauchsstudie ist die Handreichung zu einer synodalen Kirche fast untergegangen. Können Sie kurz erklären, um was es geht? Es ist ein nötiger und wichtiger Schritt. Die gesamte Kirche ist daran, einen Kulturwandel zu vollziehen. Wir wollen eine neue Kirche, deren Entscheidungen nicht von Hierarchien geprägt sind, sondern die als Volk Gottes unterwegs ist. Wir dürfen auch nicht an alten Strukturen hängen bleiben. Unter anderem wollen wir eine Kirche leben, die alle Menschen willkommen heisst und wertschätzt. Alle werden, unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Lebensform, sozialem Status, Nationalität, Kultur oder der jeweils eigenen Einstellung zum Glauben, vorurteilsfrei geachtet.

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