Wie ein Mädchen im Kinderheim «versorgt» wurde
An einer Buchvernissage in der Kantine der HLM in Einsiedeln stellte Annemarie Iten am Donnerstag ihr Werk «Mein Leben bitte in Papier einpacken!» einem grossen Publikum vor.
Otto Hostettler, Redaktor beim «Beobachter», begrüsste über hundert Gäste in der Kantine der HLM, in der die Buchvernissage über die Bühne ging, an der das Werk «Mein Leben bitte in Papier einpacken» von Annemarie Iten vorgestellt wurde.
Hostettler schrieb das Vorwort des Buches und erhielt im Jahr 2011 den Zürcher Journalistenpreis für Artikel über das Schicksal von Verding- und Heimkindern. Hostettler beschrieb, wie das Waisenhaus Einsiedeln lange von Nonnen betrieben worden war, in den letzten Jahren seiner Existenz jedoch von einem professionellen Heimerzieher geleitet wurde.
Strafen und Übergriffe im Waisenhaus War das Regime der Ingenbohler Schwestern von Gewalt und demütigenden Strafen gekennzeichnet, so beging der professionelle Heimleiter Übergriffe. Schliesslich wurde die Institution aufgelöst. Das Gebäude beherbergt heute das Kultur- und Kongresszentrum Zwei Raben.
Annemarie Iten, die nach dem Heimaufenthalt aus eigener Kraft die Lehrerlaufbahn einschlagen konnte, schilderte an der Buchvernissage das Aufwachsen im Heim, die Strafen, die Übergriffe, aber auch positive Figuren in ihrer Jugend.
Sie und ihre Geschwister gehörten zu den wenigen wirklichen Waisen im Waisenhaus: Die meisten Kinder dort waren so genannte Sozialwaisen – darunter solche, die aus jenischen Familien herausgerissen worden sind.
Annemarie Iten durchlebte nach dem Behördenentscheid «Aufhebung einer Familie» eine harte Kindheit und Jugend. Die im Jahr 1956 in Willerzell Geborene schreibt über ihr Leben als eines der letzten Waisenhauskinder im Kinderheim Einsiedeln, das im Jahr 1972 geschlossen worden ist: Die Autorin beschreibt eindrücklich, wie sie ihr Leben nach unfassbar schwierigen Kinder- und Jugendjahren gemeistert hat.
Sophia ist Annemarie Ihr autobiografisches Buch trägt den Untertitel «Eine wahre Lebensgeschichte der Sophia». Von Beginn weg ist klar: Sophia ist Annemarie Iten. Diese Sicht von aussen auf das Persönlichste, was ihr widerfahren war, ermöglicht es der Autorin, was geschah, aus heutiger Distanz einzuordnen.
Die Mutter, eine zerbrechliche Frau, gebar zehn Kinder. Sie verstarb früh. Der Vater schied acht Monate später aus dem Leben. Die vier jüngsten Kinder kamen auf diese Weise ins Waisenhaus in Einsiedeln – das war im Jahr 1964. Sophia war da kaum acht Jahre alt. Die Geschwister durften im Heim nicht zusammenbleiben, die älteren Geschwister nicht auf Besuch kommen.
«Die Kinder werden im Kinderheim versorgt», stand in einer Aktennotiz, in die Annemarie Iten als Erwachsene Einsicht erhielt. Von den Ingenbohler Schwestern seien die Kinder «zum Verstummen erzogen» worden.
Sophia erlebt die Klosterfrauen als angsteinflössend. «Es gab aber auch Nonnen, die nett gewesen sind, die die Kinder nicht schlugen», schilderte Annemarie Iten. «Hart, kalt und fromm war es»
Es gab im Heim keine Zuwendung – alles sei ein Regelverstoss gewesen. «Hart, kalt und fromm war es», sagte Iten: Die Autorin bezeichnet die Kinder im Buch wegen des vielen Rosenkranzbetens als «Betmaschinen ». Die Drohung, wer nicht gehorche, werde in eine Erziehungsanstalt eingewiesen, verfolgte Sophia bis in die Träume hinein.
Als sich die Klosterfrauen zurückzogen und von einem Heimleiter abgelöst wurden, gab es auch fröhliche Momente. Doch der Psychoterror ging weiter. «Es ist Scheisse, keine Familie zu haben, lieber Gott, warum hast du mir meine Familie genommen?», vertraut sie ihrem Tagebuch an: In dieses Buch schreibt sie, was sie bewegt, denn niemand fragt nach ihren Gefühlen.
Erste echte Anteilnahme erlebt Als eine Lehrperson sie in der Schule fragt, wie es ihr gehe, weint sie: Es ist eine erste echte Anteilnahme, die sie erfährt. Im Jahr 1976 ist Sophia zwanzig Jahre alt. Die Bedrohung «Erziehungsanstalt » ist überwunden. Annemarie Iten schreibt, wie Sophia das Leben als Erwachsene mit ihrem tragischen Hintergrund meistert und sich einer weiteren grossen Herausforderung im Leben stellt.
Erst mit der Einsicht in die Akten erfährt sie von der Dimension der Entscheidungen, die über ihr Leben als Kind und Jugendliche gefällt worden waren. Ausschnitte aus den Akten, Tagebucheinträge und Zeichnungen sind im Buch eingestreut.
Aufruf an die Gesellschaft, hinzuschauen Im Nachwort schreibt die Autorin, dass es Mut gebraucht habe, dieses Buch zu schreiben: Es ist gut, hat sie es getan – für andere Betroffene, für Behörden, die über die Zukunft von Kindern entscheiden müssen und auch als Aufruf an die Gesellschaft, hinzuschauen. Heute ist Annemarie Iten im Pensionsalter. Wegen des Mangels an Lehrpersonen unterrichtet sie in einem Kindergarten (siehe Inserat).
Am 14. Juni, um 19.30 Uhr, liest Annemarie Iten im Hotel Drei Könige in Einsiedeln aus ihrem Buch «Mein Leben bitte in Papier einpacken!» und beantwortet danach Fragen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Es ist keine Anmeldung nötig.