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«In der Nachbarschaftshilfe braucht es mehr Freiwillige»

«In der Nachbarschaftshilfe braucht es mehr Freiwillige» «In der Nachbarschaftshilfe braucht es mehr Freiwillige»

Am 24. April informiert der Verein KISS Einsiedeln über Freiwilligenarbeit. Der Präsident Urs Birchler steht Red und Antwort zum Sinn und Zweck einer KISS-Genossenschaft Einsiedeln, die im Frühsommer gegründet werden soll: «Es ist wichtig, dass man sich in der Familie, in Vereinen, in der Nachbarschaft hilft.»

Was will KISS Einsiedeln?

Grundsätzlich geht es um die Nachbarschaftshilfe. KISS fördert und unterstützt dabei auch bereits bestehende Strukturen und Hilfen. Die Abkürzung von KISS ist der einprägsame Slogan und heisst: «Keep it small and simple». Die Organisationsstruktur soll einfach und der administrative Aufwand klein gehalten werden. Die Arbeitsweise soll auf Augenhöhe und niederschwellig, also für jedermann zugänglich sein. Im Fokus steht der Zeitnachweis. Wie funktioniert der Zeitnachweis konkret?

KISS will der Freiwilligenarbeit in Form von Zeitnachweisen Wertschätzung geben. KISS ist mit bestehenden Organisationen im Austausch. Wo Bedarf ist, wirkt KISS ergänzend; zusätzliche Angebote entspringen in der KISS-Genossenschaft durch die Bedürfnisse der Leistungsempfänger und der Leistungserbringer. Mit einem einmaligen Beitrag von hundert Franken können alle Mitglied der Genossenschaft werden, sei es als Leistungsempfänger oder als Leistungserbringer oder auch aus ideellen Motiven, weil sie KISS einfach gut finden.

Können Sie die Arbeitsweise von KISS beschreiben? Ein Merkmal der Arbeitsweise sind die Tandems. Eine Person (Leistungsempfängerin) meldet bei der Koordinatorin, welche Unterstützung sie benötigt. Die Koordinatorin sucht unter den Mitgliedern eine leistungserbringende Person, die dazu bereit ist. Die beiden müssen sich darauf einigen, welche Tätigkeit wie oft erfolgen soll. Dabei geht es aller-dings nicht um Arbeiten wie zum Beispiel Wohnungsreinigung, aber auch nicht um Pflege; das ist Aufgabe der Spitex. Zudem sollen die Benevol-Grundsätze eingehalten werden. Das heisst, dass der zeitliche Aufwand beschränkt sein soll auf höchstens sechs Stunden pro Woche. Es kann sich jedoch auch nur um eine oder zwei Stunden handeln im Sinne der Nachbarschaftshilfe, aber immer mit Zeitnachweis. Welchen Stellenwert würden Sie der Freiwilligenarbeit in unserer Gesellschaft beimessen? Die Freiwilligenarbeit hat einen grossen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Ihre Bedeutung muss gesteigert werden. Die Freiwilligenarbeit hat teilweise immer noch den Ruf der Wohltätigkeit. Freiwilligenarbeit ist heute und noch mehr in Zukunft für die Gesellschaft eine Notwendigkeit. Wieso engagieren sich immer weniger Leute für die Freiwilligenarbeit?

Einerseits sind heutzutage die Leute beruflich stark gefordert. Dadurch finden sie weniger Zeit für Freiwilligenarbeit. Zudem geniessen die Freizeit und die Familie einen hohen Stellenwert.

In welchen Bereichen in unserer Gesellschaft fehlt es vor allem an Freiwilligen, die sich engagieren?

Es braucht allgemein in der Nachbarschaftshilfe mehr Freiwillige, zum Beispiel zur Unterstützung für alte Menschen, die nicht in einer Institution leben. Ist die neue Genossenschaft keine Konkurrenz zu anderen Institutionen? Überhaupt nicht. Die heutigen Organisationen erbringen ihre Tätigkeiten wie bisher weiter. Jene Personen, die für diese Organisationen Freiwilligenarbeit leis-ten, können mit einem einmaligen Beitrag von hundert Franken Mitglied von KISS werden und erhalten Zeitnachweise für ihre geleisteten Stunden. KISS wird in Ergänzung auch eigene Aktivitäten aufbauen. KISS-Zeitnachweise sind eine neue Form der Abgeltung. Damit wird Wertschätzung ausgedrückt. Welche Jobs übernimmt KISS konkret? Im Fokus steht die Hilfe für Betagte: Zum Beispiel für sie einkaufen, sie besuchen, Ihnen vorlesen, mit ihnen spazieren, mit ihnen diskutieren oder auch mal den Rasen mähen – mit ihnen Zeit einfach verbringen. Irgendwann später im Leben ist man vielleicht selber in der Situation, dass man seine Autonomie verliert. Mittels Zeitnachweise, dem Erfassen der erbrachten Stunden pro leistungserbringende Person, hat man gewissermassen ein Anrecht darauf, dass man selber Leistungen in Anspruch nehmen darf. Basis ist das Vertrauen, dass es die Freiwilligenarbeit auch dann noch gibt, wenn man selber darauf angewiesen sein wird.

Kommen andere freiwillig Arbeitende auch in den Genuss von Zeitgutschriften? Grundsätzlich müssen bei KISS Leistungserbringer und Leistungsbezieher Genossenschafter sein. Im Fokus steht dabei die Nachbarschaftshilfe. Jede einzelne KISS-Genossenschaft hat Spielraum, spezifische Lösungen für ihre Region zu suchen. Es gibt da kein übergeordnetes Korsett. In Einsiedeln überlegen wir uns zum Beispiel, mit bisherigen Leistungserbringern eine Kollektiv-Mitgliedschaft abzuschliessen.

Wie sind die Erfahrungen anderer KISS-Genossenschaften in der Region? Die KISS-Genossenschaften erfahren grosse Resonanz. Die KISS March, die erste im Kanton Schwyz, hatte bereits im Jahr 2019, in ihrem zweiten Jahr, 129 Mitglieder. Unterdessen sind es 200 Leute in Lachen. Es wurden 3000 Stunden geleistet, die mit Zeitnachweisen entgolten wurden. Die sehr etablierte KISS Cham, heuer bereits im neunten Geschäftsjahr, hat 500 Mitglieder; es sind über 7000 Stunden zugunsten von einzelnen Menschen und 6500 Stun-den allgemein für Veranstaltungen (Mittagstisch und anderes) geleistet worden. Wie ist es im vergangenen Jahr im Klosterdorf zur Gründung des Vereins KISS Einsiedeln gekommen?

Über persönliche Kontakte hat meine Frau, Janine Birchler, KISS-Genossenschaften in Sins und Zug kennengelernt. Die Idee, Freiwilligenarbeit mit Zeitnachweisen ideell zu stärken, liess sie nicht mehr los. So schloss sie sich mit Franziska Keller und mit mir zu einem «Gründungskomitee » zusammen, aus dem heraus schliesslich zwölf Personen im letzten Jahr den Verein KISS Einsiedeln aus der Taufe hoben. Der nächste Schritt ist es nun, den Verein KISS Einsiedeln in die KISS-Genossenschaft Einsiedeln zu überführen.

Was geht konkret am 24. April im Hotel Drei Könige in Einsiedeln über die Bühne? Wir informieren über die KISS-Genossenschaft Einsiedeln, die im Frühsommer gegründet werden soll. Wir suchen Einzelpersonen, die bereit sind, mit einem einmaligen Beitrag von hundert Franken – oder auch mehr – beizutreten, sei es aus ideellen Gründen, weil sie die Sache gut finden, oder sei es, weil sie Leistungen beziehen oder Leistungen erbringen wollen. Wir bemühen uns zusätzlich, dass Organisationen als Kollektivmitglied beitreten. Die Genossenschaft braucht einen Vorstand; für die praktische Umsetzung benötigen wir eine Geschäftsführung, die für die Vernetzung von KISS mit anderen Organisationen verantwortlich ist, die Einsätze koordiniert und KISS-Anlässe organisiert.

Welche Bedeutung hat für Sie selber die Freiwilligenarbeit? Ich erkenne ein grosses sinnstiftendes Potenzial in der Freiwilligenarbeit und möchte mich gerne für sie einsetzen. Diese Arbeit soll mit den Zeitnachweisen ideell gestärkt werden. Denn die Bevölkerung ist auf sie angewiesen. Es ist wichtig, dass man sich hilft: In der Familie, in der Nachbarschaft, in den Vereinen. Die Freiwilligenarbeit muss in unserer Gesellschaft weiterhin einen festen Platz haben, ja sie muss gestärkt werden. Im Instrument der Zeitnachweise erkenne ich ein geeignetes Mittel: Einerseits für mich selber eine Anerkennung, andererseits kann die KISS-Organisation zur Wertschätzung der Freiwilligenarbeit beitragen. Nun gehen viele Babyboomer in Pension. Besteht die Hoffnung, dass KISS Einsiedeln einige von diesen Pensionierten für die Freiwilligenarbeit gewinnen kann? Wir wünschen uns, viele Baby-boomer neugierig zu machen und für KISS gewinnen zu können. Wir sind überzeugt, dass viele von ihnen bereit sein werden, sich für dieses sinnstiftende Engagement Zeit zu nehmen.

Seit Jahrzehnten ist der Individualismus auf dem Vormarsch. Erkennen Sie Anzeichen einer Trendwende, in den Gemeinschaften, dass das Gemeinschaftliche wieder an Terrain gewinnt? Gesellschaften haben sich von Generation zu Generation immer wieder gewandelt. Heute sind viele Themen und Bedürfnisse aktuell, die es in meiner Kindheit nicht gegeben hat. Der Individualismus ist Tatsache. Einsamkeit und Vereinzelung sind ein Thema. Früher waren die Familien grösser und geografisch sich näher. In dieser sich ändernden Gesellschaft kann die Nachbarschaftshilfe in vielen Lebenssituationen heute und in Zukunft wichtig sein. Ist das Klosterdorf in Sachen Freiwilligenarbeit besser aufgestellt als vergleichbare Ortschaften, weil es in Einsiedeln ein reges Vereinsleben gibt? In Einsiedeln wird seit Jahren engagiert Freiwilligenarbeit geleistet: Zum Beispiel vom Besuchsund Begleitdienst, von den Frauenvereinen im Dorf und in den Vierteln, von der Pro Senectute, von der Jugendförderung Einsiedeln, von Einsiedle mitenand, von den vielen Sport- und Kulturvereinen und weiteren Organisationen. Unser Klosterdorf ist ein lebendiges Dorf! Wie überall gibt es aber auch bei uns die Tendenz, dass Vereine, Parteien und Genossenschaften vermehrt auf Schwierigkeiten stossen, ausreichend Nachwuchs zu finden. Umso mehr ist die Zeit reif dazu, ins Bewusstsein zu rufen, wie wichtig die Freiwilligenarbeit für unsere Gesellschaft ist.

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