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Die Secretope sind in Gefahr

Die Secretope sind in Gefahr Die Secretope sind in Gefahr

SEITENBLICK: «VERUSSE»

MARTIN LÜTHI

Vermutlich haben auch Sie ein Geheimplätzli, diese ganz besonderen Lieblingsorte, die uns immer wieder anziehen. Geheimplätzli sind Orte, an denen wir uns wohlfühlen, und die beinahe schon ein Teil von uns sind. Wir kennen sie genau, und doch sind sie jedes Mal ganz anders. Bei Sonne, Nebel, Regen, Schnee, in voller Blüte oder im Herbstlaub und Sturm. Jedes Mal sind auch wir anders, haben eine andere Stimmung. Mal sind wir fit und draufgängerisch, mal grübeln wir über etwas nach, mal brauchen wir Erholung. Und manchmal gehen wir einfach los, um zu erleben, wir sind ganz wach und einfach da. Unsere Geheimplätzli sind bedroht

Einen solchen persönlichen Lieblingsort nenne ich hier mal «Secretop» (mit Betonung auf dem o, so wie in Biotop). Dieses Kunstwort für Geheimplätzli klingt etwas geschwollen und nicht sehr heimelig, dafür ernsthaft und wichtig. Und das hat seinen Grund. Die Bezeichnung «Secretop» setzt sich zusammen aus den Begriffen «secreto », geheim, und «topos», Ort. Denn es gibt ein ernsthaftes Problem: Die Secretope sind in Gefahr. Unsere Geheimplätzli sind bedroht durch die gedankenlose Veröffentlichung des Privatlebens. Wie eine Pandemie grassiert eine Profilierungssucht, ein weltweites Blöffen, das jeden Geheimtip mit Sternli klassifiziert. Es geht nur noch darum, an den angesagten Fünf-Sternli-Orten gewesen zu sein; das eigene Erleben und Entdecken ist dabei egal. Was im Freundeskreis ganz normal ist, das Teilen von Erfahrungen, Geheimtipps und etwas Blöffen, ist nun öffentlich, international und instantan. Im Prinzip ist das gut gemeint: Teile anderen Deine Erfahrungen mit, verrate ihnen, wo es sich lohnt, hinzugehen.

Dieses Veröffentlichen von Geheimtipps begann vor 230 Jahren mit dem Reiseführer von Johann Gottfried Ebel anno 1793. In seiner 600-seitigen «Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen» gibt er viele Empfehlungen, auch zu den geheimnisvollen Bergtälern zwischen Schwyz und Zürichsee. Über die Haken- Alp (heute Haggenegg) heisst es: «Hier ist eine schöne Aussicht auf die Lowerzer- und Vierwaldstädter- Seen und die herumliegenden Gebirge; südwärts vom Wirthshause stehen die beyden Spitzen des kleinen und grossen Mythen, 4548 Fuss über den See; zwey nackte und rauhe Felsen, auf welche kein Fussweg leitet, die man aber unter der Leitung guter Führer aus dem Wirthshause erklimmen kann, wenn man dem Schwindel nicht unterworfen, und des Felskletterns gewohnt ist. Die Aussicht von dem Gipfel der Mythen ist noch weit ausgedehnter als von der Haken-Alpe.» Das ist lange her, noch vor dem Einfall der französischen und russischen Truppen.

Der Overtourism

Heute ist natürlich alles effizienter. Innert Minuten lassen sich Selfies, Erfahrungen und Geheimtipps fotografieren, mit Sternli versehen und

INSERATE

weltweit publizieren. Innert Sekunden können wir Geheimtipps auf Trip Advisor, OutdoorActive und Co abrufen, und das überall und jederzeit. Das ist ein ungeheurer technischer Fortschritt und auf Reisen überaus nützlich. Mit coolen Statusbildern und Posts auf unzähligen Plattformen wird aber auch aktiv die Bekanntheit von Orten multipliziert, mit teils fatalen und ungewollten Folgen. Im Gedächtnis bleibt mir die Schlagzeile «Aus im Aescher – zerstören Instagram-Bilder den Schweizer Tourismus?». Die Fachleute ha-ben schon einen Begriff dafür: Social Media führen zu «Overtourism».

Nun verstehen Sie meinen geschwollenen Begriff Secretop. Es ist das Gegenteil von Overtourism. Genau so, wie Biotope einen Lebensraum und Rückzugsort für viele Tiere und Pflanzen bilden und daher oft geschützt sind, genau so sollten wir unsere Secretope als Rückzugsorte vor dem Overtourism schützen. Und genau so, wie Geotope einmalige Formationen in der Landschaft sind, die wir erhalten wollen, genau so sollten wir unsere einmaligen Secretope erhalten.

Zum Abschluss wollen Sie sicherlich noch wissen, wo denn meine Secretope, meine Lieblingsplätzli sind. Es gibt da so einige, um Einsiedeln herum, im Ybrig und anderswo … aber entschuldigen Sie, das ist und bleibt secreto! «Es geht nur noch darum, an den angesagten Fünf-Sternli-Orten gewesen zu sein. Das eigene Erleben und Entdecken ist dabei egal.»

geboren 1967 in Olten, ist seit 20 Jahren in Einsiedeln wohnhaft. Er ist beruflich und privat, als Gletscher- und Höhlenforscher, oft an interessanten und abgelegenen Orten unterwegs, zu Fuss, mit Skiern oder auf dem Bike.

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