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Schneeflöckli, Wissröckli

Schneeflöckli,  Wissröckli Schneeflöckli,  Wissröckli

ZWISCHENLUEGETEN 3

IDA OCHSNER

Es begann zu schneien. «Ich will nicht schmelzen», wisperte eine Schneeflocke der anderen zu. «Was jammerst du und redest schon von deinem Ende? Wir fallen doch erst. Die ganze Welt liegt uns zu Füssen. Diese wunderbare, grosse, runde Welt! Geniesse das Sinken, das Schweben, den Wind, der uns hierher oder dort-hin trägt. Es ist aufregend, nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Hast du nicht Herzklopfen wie ich?» «Ich habe kein Herzklopfen. Schneeflocken haben kein Herz. Sie sind kalt und eisig. Was soll daran aufregend sein? Auf ein schlecht isoliertes Hausdach oder auf eine noch warme Wiese zu fallen? Augenblicklich werden wir zu Tropfen.» «Du bist gar nicht eingenommen », lachte die andere Flocke. «Ist nicht jede von uns ein einzigartiger Kristall? Diese verschwenderische Einzigartigkeit macht uns auch wieder gleich. Findest du nicht? Du musst das philosophisch denken.» «Philosophieren ist Luxus», entgegnete die missmutige Schneeflocke und maulte unentwegt vor sich hin. «Wenn ich wenigstens die Gewissheit hätte, der Arktis entgegenzufallen, könnte ich vielleicht diesen traurigen, mühsamen Weg zur Erde einige Minuten geniessen.» Gerade wollte sie über die Unverfrorenheit der thermischen Winde schimpfen, denen es gefällt, die Symmetrie der Kristalle zu zerstören, da fiel sie auf einen Kindermund und schmolz auf der Zunge.

«Was für ein wunderbarer Tod, in einem Kindermund zu verge-hen »,hauchte die andere Schneeflocke, ehe sie auf den Asphalt sank und schmolz.

* Ida Ochsner (62) – schon als Kind trällerte sie durch die Gassen: «Schneeflöckli, Wissröckli, du härzige Stern, du bringsch üs dr Winter, mir händ dich so gärn.» Heiri Strohmayer (65) trällerte eher beim nach Hause gehen von der Beiz.

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