«Und ob ich schon wanderte im finstern Tal»
Paul Jud hat den Jakobsweg Südtirol–Graubünden erkundet und in zwölf Tagen 360 Kilometer zurückgelegt. Der 70-jährige Einsiedler hat Hitze, Kälte und Schnee erlebt, in wunderlichen Gaststätten übernachtet und ist unverhofft grosszügigen Postautochauffeuren begegnet.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Am 13. Oktober im Jahre des Herrn anno domini 2022 war es so weit: Paul Jud bricht in Innsbruck auf, marschiert auf dem Jakobsweg nach Bozen und weiter zum Costainaspass und erreicht schliesslich am 25. Oktober bei Nieselregen Zernez. Den ersten Teil der Strecke hat der 70-jährige Einsiedler mit der Bahn absolviert Der Jakobsweg durch Südtirol und Graubünden ist eine Route für Bergfreunde. Die Auf- und Abstiege addieren sich auf der 500 Kilometer langen Strecke auf jeweils fast 28’000 Höhenmeter. Kulturhistorische Zeichen weisen auf Spuren der Pilgerfahrt nach Santiago hin. Prächtige Wanderlandschaften laden zum Nachdenken über die Pilgerschaft des eigenen Lebens ein.
Zu einem Bier eingeladen
Von Neustift geht es entlang des Eisacktals hinunter nach Bozen, das Etschtal aufwärts nach Meran und Mals, dann im Münstertal nach Graubünden.
Paul Jud ist vom Wetterglück begünstigt: «Meistens herrschte schönes Wetter vor.» So passt es gut, dass er unterwegs auch einmal zu einem Bier eingeladen wird: Als der Jakobsweg unvermutet abrupt zu enden scheint beziehungsweise bei einem Garten stoppt, klärt ihn eine Bäuerin auf, dass der Jakobsweg mitten durch ihren Garten führt – und verköstigt den Jakobspilger mit einem Bier.
Der Costainaspass führt nach Scuol im Engadin, dann geht es das Inntal aufwärts, über den Scalettapass ins Landwassertal nach Davos und über den Strelapass ins Bündner Rheintal nach Chur. Nach der Rheinschlucht geht es nach Disentis, über den Chrüzlipass nach Silenen im Kanton Uri, zum Vierwaldstättersee und nach Emmetten, wo die Route in die Via Jacobi mündet. Graubünden als «Tour d’horizon» von Ost nach West Über 250 Kilometer hinweg präsentiert sich Graubünden zwischen Müstair und Mustér (Disentis) – Talschaften wie das Münstertal, das verträumte Susaunatal, das stotzige Schanfigg oder die vielfältige Cadi. Verbunden durch vier anspruchsvolle Pässe, der Costainer-, Scaletta-, Strela- und Chrüzlipass.
Die körperlichen Anstrengungen belohnen malerische Bündner- Dörfer inmitten einmaliger Tal- und Landschaften. Jede Talschaft zeigt sich als eigenständigen Kulturraum in Geschichte, Konfessionen und Recht. Graubünden widerspiegelt im Kleinen europäische Vielfalt – der Jakobsweg Graubünden als «Tour d’horizon » von Ost nach West durch diese eindrückliche Region.
Ein Hunderternötli für einen Jakobspilger
Müstair zeigt mittelalterliche Jakobuszeugnisse. Tschiertschen mit seiner Jakobuskirche ist Etappenort vor Chur. Dessen Kathedrale zeigt ein Jakobus-Wandbild aus der Hand des Waltensburger Meisters. Die Cadi vor Disentis hält mit Spuren der alten Pilgerfahrt nicht zurück. Über das Urnerland mündet der Weg in die nationale Route 4 Via Jacobi.
Es geschehen Zeichen und Wunder: Auf dem Weg nach Lü in die höchstgelegene ganzjährig bewohnte Ortschaft der Schweiz (1920 Meter über Meer) will ein Postautochauffeur den Jakobspilger mitnehmen. Paul Jud lehnt das Angebot dankend ab: Ein Pilger hat schliesslich zu Fuss zu gehen und nicht mit dem Postauto zu fahren. Der Chauffeur drückt dem Jakobspilger ein Hunderternötli in die Hand – auf dass er damit in einem Hotel übernachten könne. «Eine wahrlich nette Geste. So etwas habe ich nicht erwartet», staunt Paul Jud.
Als Wegbetreuer des Jakobsweges im Einsatz «Der Alltag hat einen schnell wieder », resümiert Paul Jud. Zurück bleiben denn zahlreiche Erinnerungen an schöne Begegnungen mit herzlichen Menschen, wundersame Erlebnisse in der Natur und historische Stätten, wo sich Himmel und Hölle berühren und sich nahe kamen.
Wie es denn heisst im Psalm 23:4: «Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.» Im kommenden Jahr wird Paul Jud wieder auf dem Jakobsweg unterwegs sein: In seiner Funktion als Wegbetreuer des Jakobswegs – er betreut die Strecken Rapperswil–Einsiedeln und Grynau–Einsiedeln – pilgert er im Sommer von Rapperswil nach Einsiedeln.
In Bozen, der Landeshauptstadt von Südtirol, erreicht der Jakobsweg durch Südtirol und Graubünden seinen tiefsten Punkt: 262 Meter über Meer.
Mit elf Kilometern ist der Marlinger Waalweg der längste seiner Art im Südtirol.
Das Goldene Dachl ist ein spätgotischer Prunkerker am Neuen Hof in der Herzog-Friedrich-Strasse in der Innsbrucker Altstadt.
Am alten Verkehrsweg nach Ftan ist die Ruine des Passantenhauses und Postgebäudes Chanoua in Ardez zu entdecken.
Fotos: Paul Jud
Der Jakobsweg durch Südtirol und Graubünden ist eine Route für Bergfreunde: Paul Jud ist auf dem Costainaspass angekommen.
Das Benediktinerinnenkloster St. Johannes Baptist in Müstair diente bereits im Mittelalter den Reisenden im Münstertal als Hospiz.