«Wir müssen die Versorgung für den Winter sicherstellen»
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat bei vielen Menschen grosse Verunsicherung ausgelöst. Wie sehr hängt die Schweiz am russischen Gas und kann ein Ausstieg gelingen? Thomas Hegglin, Verband der Schweizerischen Gasindustrie (VSG), und Thomas Ochsner, Leiter der Erdgas Einsiedeln AG, nehmen Stellung zur Gasmangellage im Winter.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Was geschieht, wenn das Gas ausgeht?
Wenn in der Schweiz eine Gasmangellage eintritt, die von der Branche nicht mehr bewältigt werden kann, trifft der Bund die notwendigen Massnahmen. In einem ersten Schritt würde der Bund die Verbraucher mittels Sparappellen aufrufen, den Gasverbrauch zu reduzieren. Gleichzeitig kann der Bund den Firmen mit Zweistoffanlagen die Umstellung von Gas auf Heizöl vorschreiben. Als weitere Massnahme kann der Bundesrat Einschränkungen für gewisse Anwendungen beschliessen, zum Beispiel verbindliche Beschränkungen der Heiztemperatur in öffentlichen Gebäuden oder in Büros.
Was heisst das konkret?
Schliesslich kann der Bund bei einer anhaltenden Mangellage auch Kontingentierungen anordnen. Davon wären alle Anlagen betroffen, die nicht zu den so genannten geschützten Verbrauchern zählen. Zu den geschützten Verbrauchern gehören Privathaushalte, Fernwärmeanlagen für Privathaushalte und grundlegende soziale Dienste. Zu letzteren zählen auch Spitäler, Energie- und Wasserversorgung sowie Blaulichtorganisationen.
«Die Schweiz hat keine eigenen Gasspeicher und ist vollends auf Importe angewiesen.»
Was unternimmt der Verband?
Der Verband der Schweizerischen Gasindustrie (VSG) baut im Moment im Auftrag des Bundes eine Kriseninterventionsorganisation auf. Diese hat die Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten und bei einer Mangellage die Netzbetreiber bei der Umsetzung der vom Bund angeordneten Massnahmen zu unterstützen. Ist es denkbar, dass es auch beim Gas – wie beim Strom – zu einem Blackout kommen könnte? Die Gasversorgung in der Schweiz ist im Moment stabil. Die Versorgungssicherheit ist derzeit gewährleistet, auch wenn die Lage sehr angespannt ist. Die europäischen Grosshandelspreise sind in den vergangenen Tagen nochmals stark gestiegen. Sehr konstant sind die Erdgaslieferungen aus der Nordsee – und auch die LNG-Importe (Liquefied Natural Gas) nach Europa befinden sich auf hohem Niveau.
Wie schätzen Sie die Lage ein?
Die Schweiz hat keine eigenen Gasspeicher und ist daher vollständig auf Importe angewiesen. Bis zu drei Viertel der Gaslieferungen der Schweiz erfolgen via Deutschland. Von Gasengpässen in der EU und insbesondere Deutschland wäre deshalb auch die Schweiz betroffen. Können die europäischen Speicher nicht plangemäss gefüllt werden, erhöht sich das Risiko einer Mangellage im kommenden Winter. Die Schweizer Gaswirtschaft arbeitet mit Hochdruck daran, eine Gasreserve für den kommenden Winter aufzubauen. Dabei handelt es sich um Speicherkapazitäten in den Nachbarländern und Optionen für zusätzliche Gaslieferungen. Die Gaswirtschaft ist zuversichtlich, dass die vom Bund gesteckten Ziele erreicht werden können.
«Von Gasengpässen in der EU und in Deutschland wäre auch die Schweiz betroffen.»
Der Kanton Schwyz hat keinen eigenen Strom und ist nicht an Stromkraftwerken beteiligt. Sieht das beim Gas anders aus? Ist der Kanton Schwyz involviert in die Gasversorgung? Beim Gas ist dies genau dasselbe: Weder gibt es im Kanton Schwyz – wie auch im Rest der Schweiz – Gasquellen noch ist der Kanton irgendwie an Gasförderanlagen beteiligt. Unseres Wissens hält der Kanton Schwyz auch keinerlei Anteile an Gasversorgern. Jedenfalls ist der Kanton bei der Erdgas Einsiedeln AG in keiner Art und Weise involviert: Wir sind vielmehr ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen.
Woher kommt das Gas derzeit? Das in der Schweiz genutzte Erdgas stammt zu über vierzig Prozent aus Westeuropa. Ein vergleichbar hoher Anteil kam im vergangenen Jahr aus Russland, wobei dieser in den vergangenen Wochen und Monaten stark zurückgegangen sein dürfte aufgrund der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland und den Bemühungen Westeuropas, auf andere Gaslieferanten auszuweichen. Der Rest des in der Schweiz genutzten Erdgases stammt aus diversen Weltregionen. Die Schweiz beschafft das Gas primär auf den Märkten in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Italien und somit in Ländern der EU. Die Schweizer Gaswirtschaft hat auch keine direkten Lieferbeziehungen zu Russland.
«Die Erdgas Einsiedeln AG ist ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen.»
Lässt sich derzeit noch Gas am Markt beschaffen – trotz der Reduktionen der Gaslieferungen aus Russland auf Nord Stream 1? Der Bundesrat hat die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, dass die Gaswirtschaft die Beschaffung für den kommenden Winter gemeinsam angehen kann. Das ist deshalb nötig, weil es in der Schweiz – anders als in den Ländern der EU – noch keine spezialgesetzliche Regelung der Marktordnung gibt, die beispielsweise einen Marktgebietsverantwortlichen bezeichnet, dem in einer Mangellage klare Rechte und Pflichten zugewiesen werden können. Was beinhaltet das Konzept zur Stärkung der Versorgungssicherheit im Gasbereich im kommenden Winter? Es beinhaltet zwei Massnahmen: Zum einen die Einrichtung einer physischen Gasreserve in Gasspeichern der Nachbarländer. Diese soll 15 Prozent (rund sechs Terawattstunden) des jährlichen Gasverbrauchs der Schweiz von rund 35 TWh abdecken. Die Schweiz trägt damit auch zur Füllung der europäischen Speicher bei. Zum anderen die Beschaffung von Optionen für zusätzliche nicht-russische Gaslieferungen in Höhe von 6 TWh (rund zwanzig Prozent des Schweizer Winterverbrauchs), die bei Bedarf kurzfristig abgerufen werden können. Wie kann garantiert werden, dass das beschaffte Gas tatsächlich in die Schweiz gelangt? Damit sichergestellt werden kann, dass das Gas bei einer Mangellage tatsächlich in die Schweiz gelangt, braucht es mit den benachbarten Ländern entsprechende Abkommen. Der Bund steht im Moment in Verhandlungen über sogenannte Solidaritätsabkommen mit Nachbarstaaten wie Deutschland und Frankreich.
«Es braucht auch in der Schweiz einen Speicher. Die Branche wird das Thema einbringen.»
Wie viel von der physischen Gasreserve ist derzeit gesichert?
Die Regionalgesellschaften ha-ben die Zielsetzung beim Aufbau der Gasreserven in Gasspeichern aktuell zwischen 75 und 100 Prozent erreicht. Gibt es Bemühungen zum Aufbau von Gasspeicherkapazitäten in der Schweiz? Es braucht auch in der Schweiz einen Speicher. Die Branche wird das Thema nun verstärkt einbringen. In einem ersten Schritt geht es darum, technische und wirtschaftliche Fragen abzuklären – beispielsweise, wer einen Speicher in einem liberalisierten Gasmarkt bezahlt. Der Kostendruck spielt hier eine ganz andere Rolle als bei einem Beschaffungsmodell mit langfristigen Abnehmerverträgen und si-cherem Gasabsatz, wie das vor der Liberalisierung der Fall gewesen ist.
«Es braucht seine Zeit, um die Gasversorgung vollständig zu dekarbonisieren.»
Wieso fehlen Gasspeicherkapazitäten in der Schweiz?
In der Schweiz hat es immer wieder Projekte für Gasspeicher gegeben. Aktuell verfolgt Gaznat in Oberwald im Kanton Wallis ein entsprechendes Projekt. Dabei soll festgestellt werden, ob hier unter den Alpen ein Gasreservoir gebaut werden kann. Vier Kavernen sollen es ermöglichen, rund 1500 Gigawattstunden zu lagern. Oberwald befindet sich einige Hundert Meter weit von der Trasse der Gas-Pipeline Transitgas entfernt, die das Schweizer Erdgasnetz mit Deutschland, Frankreich und Italien verbindet. In der Schweiz Gasspeicher zu bauen, ist technisch sehr anspruchsvoll und auch teuer.
«Der Prozess hin zu klimaneutralen Gasen läuft und ist politisch gewollt.»
Woher kommt das Gas in Zukunft?
Die Schweiz beschafft das Gas primär auf den Märkten in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Italien und somit in Ländern der EU. Die europäischen Länder und die EU arbeiten mit Hochdruck daran, Abhängigkeiten von russischem Gas zu reduzieren und die Bezugsmöglichkeiten breiter abzustützen. Dabei spielt LNG eine wichtige Rolle, da auf diese Weise Gas aus den unterschiedlichsten Weltregionen beschafft werden kann. Die EU verfügt momentan über knapp vierzig LNG-Terminals, in denen Flüssigerdgas ins europäische Netz eingespeist werden kann. Wie hoch ist der Gas-Anteil bei den Energieträgern in der Schweiz? Der Anteil des Gases beträgt 15 Prozent vom Endenergieverbrauch in der Schweiz. Ist es vorstellbar, dass die Industrie im Winter wegen einer Gasmangellage die Produktion herunterfahren muss? Das Risiko, dass es im kommenden Winter in Westeuropa zu einer Mangellage kommt, kann nicht ausgeschlossen werden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Schweiz. Mit einem kompletten Lieferstopp durch Nord Stream 1 erhöht sich das Risiko. Die Situation hängt auch von den Temperaturen im kommenden Winter ab. Es ist wich-tig, dass die europäischen Gasspeicher bis zum Winter möglichst vollständig gefüllt werden können und bis dann möglichst viel LNG und LNG-Terminalkapazitäten zur Verfügung stehen.
Kommt eine gesetzlich geregelte Gasmarktordnung zustande, die Rechtssicherheit beim Marktzugang schafft und Anforderungen an die Versorgungssicherheit berücksichtigt? Der Bundesrat hat im Mai kommuniziert, dass der Vernehmlassungsentwurf zum Gasversorgungsgesetz gemäss den Erkenntnissen des Ukrainekriegs überarbeitet werden soll. Für die Schweizer Gaswirtschaft ist von grösster Wichtigkeit, dass das seit Längerem dringend benötigte Gesetz jetzt schnell vorangetrieben werden muss. Es braucht ein Gesetz, das Rechtssicherheit beim Marktzugang schafft und Anforderungen an die Versorgungssicherheit berücksichtigt.
Wie kann Erdgas in den kommenden Jahren durch erneuerbare und klimaneutrale Gase ersetzt werden?
Um die Produktion und Nutzung erneuerbarer Gase in der Schweiz ausbauen zu können, braucht es bessere Rahmenbedingungen. Dabei geht es primär darum, erneuerbare Gase durch Investitionsbeiträge oder Einspeisebeiträge zu fördern. Noch immer wird lediglich die Stromproduktion aus Biogas unterstützt, die der Gasversorgung keinen Nutzen bringt. Was geschieht auf Ebene der Kantone? Auch in den kantonalen Energiegesetzen müssen die Rahmenbedingungen so ausgestaltet sein, dass Biogas in allen Kantonen als erneuerbare Energie anerkannt wird. Im Weiteren wird importiertes Biogas vom Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit nach wie vor als Erdgas behandelt. Es braucht rasch ein nationales Register für Herkunftsnachweise für erneuerbare Gase, das mit anderen Ländern vernetzt werden kann, sowie klare Regeln für den Import. Sind Biogas, synthetisches Methan und Wasserstoff valable Alternativen? Die Schweizer Gaswirtschaft unterstützt das Netto-Null-Ziel 2050 des Bundes: So wird Erdgas in den kommenden Jahren immer mehr durch erneuerbare und klimaneutrale Gase ersetzt, die neben Biogas auch synthetisches Methan und Wasserstoff umfassen. Es braucht jedoch seine Zeit, um die Gasversorgung vollständig zu dekarbonisieren. Der Prozess hin zu klimaneutralen Gasen läuft und ist politisch gewollt.
«Mit 15 Prozent am Verbrauch ist Erdgas in der Schweiz ein bedeutender Energieträger.»
Sind Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen, die mit erneuerbaren Gasen betrieben werden, in der Lage, die Winterstromproblematik zu entschärfen? Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen, die mit erneuerbaren Gasen betrieben werden, können einen wichtigen Beitrag leisten, die Winterstromproblematik zu entschärfen. Mit 15 Prozent am Endenergieverbrauch ist Erdgas in der Schweiz ein bedeutender Energieträger, insbesondere auch für die Industrie.
Thomas Ochsner, Leiter der Erdgas Einsiedeln AG: «Weder gibt es im Kanton Schwyz Gasquellen, noch ist der Kanton irgendwie an Gasförderanlagen beteiligt.» Foto: zvg