«Der Wolf ist gekommen, um zu bleiben»
Der Verein CH Wolf feiert sein 10-Jahr-Jubiläum mit einer Ausstellung in Einsiedeln. Die 58-jährige Präsidentin Christina Steiner steht Red und Antwort: «Der Wolf hat eine grosse Bedeutung für den Kreislauf in der Natur: Er räumt auf im Wald – andere Tierarten profitieren davon.»
MAGNUS LEIBUNDGUT
Seit elf Jahren gibt es den Verein CH Wolf. Was haben Sie in dieser Zeit erreicht? Am Anfang war eine Homepage, eine simple Website, einfach eingerichtet. Ich hätte nie gedacht, dass daraus so etwas Grosses entstehen könnte. Wir haben viel gemacht in den vergangenen elf Jahren: Unzählige Anlässe, Wolfseminare, Vorträge und Exkursionen sind auf dem Programm gestanden – nebst der allgemeinen Informationsbeschaffung über das Wolfswesen. Von Anfang waren uns Herdenschutzprojekte ein grosses Anliegen: Unterdessen begleiten wir über dreissig Projekte, unterstützen jedes Jahr Herdenschutzmassnahmen auf diversen gefährdeten Alpen in der Schweiz und berichten aktuell über die Alpsituation, die Massnahmen und Erfolge. Was war der Anstoss, dass der Verein im Jahr 2011 gegründet worden ist? Ich interessiere mich seit Kind her für das Thema Wolf und besuchte diverse Seminare. Im Jahr 2009 hatte ich die Möglichkeit, vier Wolfswelpen in einem Wildpark von Hand aufzuziehen und zu sozialisieren, die dann im Tierpark Goldau untergebracht worden sind. Im Jahr 2010 machte ich ein Praktikum in den USA mit Wölfen: Das war sehr spannend, und ich habe viel gelernt dabei. So ist das Interesse gewachsen, mich für den Wolfsschutz einzusetzen und eine Organisation zu gründen. Zusammen mit Kollegen habe ich denn im Jahr 2011 den Verein CH Wolf aus der Taufe gehoben, der in Einsiedeln domiziliert ist.
«Meister Isegrimm wird als ein böses, gefährliches Wesen dargestellt, das Leute angreift.»
Welche Ziele setzte sich der Verein vor elf Jahren?
In erster Linie geht es uns da-rum, Aufklärungsarbeit zu leis-ten: Der Wolf leidet unter einem negativen Image und hat einen schlechten Ruf. Noch immer spuken Bilder in den Köpfen der Menschen herum, die stark von den Märchen der Gebrüder Grimm geprägt sind: In diesen wird Meister Isegrimm zumeist als ein böses, gefährliches Wesen dargestellt, das Menschen angreift. Dies entspricht jedoch nicht dem wahren Bild des Wolfes. Hingegen reisst der Wolf neben den Wildtieren in den Wäldern auch ungeschützte Nutztiere auf den Alpen. Deswegen lie-gen uns ja auch Herdenschutzprogramme so am Herzen. Wir betrachten uns weniger als eine politische Organisation: Wir halten uns mit politischen Stellungnahmen zurück. Um Politik als einen Schwerpunkt betreiben zu können, müsste unser Verein grösser sein: Diese Art von Arbeit sprengt unseren Rahmen.
«WennmandemWolf Schafe und Ziegen auf dem Silbertablett serviert, greift er zu.»
Haben Sie damit gerechnet, dass sich der Wolf dermas-sen wohl fühlen würde in der Schweiz? Das erstaunt mich nicht wirklich: Der Wolf hat sich schliesslich während Jahrtausenden sehr wohl gefühlt hier in unserem Land – bevor er ausgerottet wurde. Der erste Wolf ist bereits im Jahr 1995 aufgetaucht: Es hat dann relativ lange gedauert, bis es im Jahr 2012 zur Entstehung des ersten Rudels in der Schweiz, dem Calanda-Rudel, gekommen ist. Dass sich der Wolf in der Schweiz sehr wohl fühlt, ist kein Wunder: Unser Land ist ein ideales Wolfsgelände. Es hat viel Reh- und Rotwild in den Wäldern und ausreichend Wasser. Der Wolf findet also viel Futter und hat genügend Rückzugsmöglichkeiten.
War absehbar, dass sich der Wolf auf mannigfaltige Art und Weise fortpflanzen würde? Dies war zu erwarten und entspricht dem Normalzustand: Man rechnet mit zwei bis sechs Jungtieren pro Familie pro Jahr. Jungtiere bleiben in der Regel ein bis zwei Jahre im Rudel, bevor sie weiterziehen, um eine eigene Familie zu gründen. Zu Beginn der Populationsentwicklung rechnet man mit einem jährlichen Zuwachs der Wolfspopulation von zirka dreissig Prozent. Diese stagniert jedoch, wenn die Rudelgebiete besetzt sind. Wie viele Rudel und Wölfe leben derzeit in der Schweiz? Ein Wolfsrudel besteht aus rund zehn Wölfen. Im vergangenen Jahr sind 16 Rudel gezählt worden, in diesem Jahr kommen mindestens zwei neue Rudel hinzu. 18 Rudel ergeben ungefähr 180 Wölfe, die derzeit in der Schweiz leben. Für wie viele Wölfe gäbe es Raum in unserem Land? Ein Revier eines Rudels umfasst etwa 150 bis 300 Quadratkilometer. Insgesamt steht den Wölfen in der Schweiz ein Raum von zirka 20’000 Quadratkilometern zur Verfügung, der als Wolfsgebiet geeignet wäre. Also gäbe es in unserem Land theoretisch Platz für fünfzig bis hundert Rudel, was 500 bis 1000 Wölfen entsprechen würde. Die Frage stellt sich naturgemäss, ob die Bevölkerung das auch so will und zulässt.
«Es ist einfacher, Abschüsse zu fordern, als an sich und seinem Betrieb etwas zu ändern.»
Vor Jahren strich einmal ein Wolf durch den Bezirk Einsiedeln: Wo steckt der bloss? Seit dem Herbst 2015 lebt der Wolf M52, der aus dem Calanda- Rudel stammt, in der Region Einsiedeln und im Ybrig. Wo er sich derzeit aufhält, ist unbekannt: Vor Jahren hat der Wolf in Egg seinen Sender verloren. Im Jahr 2019 wurde er letztmals genetisch nachgewiesen. Im Jahr 2020 ist der Wolf in eine Fotofalle geraten. M52 verhält sich sehr unauffällig: Er reisst Wildtiere und hält sich von Nutztieren fern. Es gab zwar Risse von Nutztieren im Bezirk Einsiedeln in den vergangenen Jahren: Diese stammen allerdings von anderen vorbeiziehenden Wölfen.
«Der Verein CH Wolf ist klar gegen eine präventive Regulierung des Wolfes.»
Wieso reisst der Wolf M52 keine Schafe und Ziegen in Einsiedeln?
Dass M52 keine Nutztiere jagt,ist typisch für die Nachkommen des Calanda-Rudels: Dieses Rudel ist bekannt dafür, wenig Nutztiere zu reissen, da im Gebiet bereits früh gute Herdenschutzmassnahmen umgesetzt wurden. Ein Stück weit ist die Erziehung der Jungwölfe dafür verantwortlich, dass sie später keine Schafe und Ziegen jagen. Allerdings ist der Wolf ein Opportunist: Wenn man ihm Nutztiere auf dem Silbertablett serviert, ergreift er die Möglichkeit dazu. Deswegen ist ein Herdenschutz so wichtig. Haben Sie bereits einmal in Ihrem Leben einen Wolf gesehen? Ich hatte in den USA schon mehrere eindrückliche Begegnungen mit freilebenden Wölfen. Einmal war ich in Minneapolis mit einem Auto unterwegs, als etwa fünfzig Meter vor uns ein Wolf auftauchte und über die Strasse gelaufen ist. Wir sind ausgestiegen, und der Wolf ist stehengeblieben und hat uns beobachtet. Er hatte dann aber keine Zeit für uns, denn er war auf der Jagd und hat schliesslich ein Reh gerissen. In der Schweiz habe ich leider noch keinen freilebenden Wolf gesehen. Ich habe jedoch schon mehrmals bei der Handaufzucht und Sozialisierung von Wolfswelpen mitgeholfen, die jedoch in Gefangenschaft leben.
Wie soll man sich verhalten, wenn einem ein Wolf begegnet? Ruhig stehen bleiben lautet die Devise. Der Wolf bleibt auch stehen, beobachtet einen, checkt die Situation und zieht dann von dannen. Wenn einem die Situation gschmuuch wird, soll man Lärm machen, laut werden – das vertreibt den Wolf. Nicht ideal ist es, wenn man davonrennt – das weckt beim Wolf den Jagdinstinkt. Man soll aber auch nicht erwarten, dass der Wolf die Flucht ergreift und davonrennt: Denn er ist sich an den Menschen gewöhnt und gerät nicht gleich in Panik, wenn er uns sieht.
«Der Kanton Schwyz tut wenig, um den Herdenschutz voranzutreiben.»
Können Sie nachvollziehen, dass Landwirte Angst vor dem Wolf haben? Natürlich kann ich das nachvollziehen. Es ist auch kein schöner Anblick, wenn Schafe gerissen werden. Jeder Bauer hat jedoch eine Verpflichtung seinen Tieren gegenüber, sie nicht schutzlos dem Wolf zu überlassen. Die Tiere könnten mit geeigneten Herdenschutzmassnahmen geschützt werden. Dies ist nicht einfach, jedoch möglich. Dies beweisen alle Alpen, die zum Teil schon seit Jahren sehr erfolgreich Herdenschutzmassnahmen umsetzen. Dank Herdenschutz können kranke Tiere gesichtet und behandelt werden. Zudem kann dank des Herdenschutzes die Zahl der sogenannten natürlichen Abgänge, wie abgestürzte Schafe, halbiert werden (von 10’000 auf 5000 Tiere). Wieso machen SVP und die Landwirtschaft dermassen Stimmung gegen den Wolf? Es ist einfacher, Abschüsse zu fordern, als an sich selbst und seinem Betrieb etwas zu ändern. Dabei nützt es gar nichts, einen Wolf in den Alpen abzuschiessen: Denn der nächste kommt bestimmt! Die Bauern wollen jeglichen Aufwand in Sachen Herdenschutz vermeiden und beharren auf der Tradition, ohne Hirten die Tiere sömmern zu können. Dabei war just in früheren Zeiten ein Hirt die Tradition, der eine Herde begleitete. Wann kommt eine neue Revision des Jagdgesetzes zur Abstimmung?
Der Bundesrat hat im Sommer des letzten Jahres die Jagdverordnung revidiert: Wolfsrudel dürfen gemäss der angepassten Jagdverordnung reguliert werden, nachdem zehn Schafe oder Ziegen in geschützten Herden gerissen worden sind. Bisher waren es 15 gerissene Tiere. Auch beim Abschuss von Einzelwölfen, die Schaden anrichten, sinkt mit der Revision der Verordnung die Schwelle von bis-her 15 auf 10 gerissene Schafe und Ziegen, wenn zuvor Herdenschutzmassnahmen ergriffen worden sind. Die Landwirtschaft hat eine starke Lobby in Bundesbern. Im Herbst kommt eine neue Revision des Jagdgesetzes vor das Bundesparlament, die eine stärkere, auch präventive Regulierung des Wolfes vorsieht: Ein Referendum gegen die neue Revision wird es kaum geben, da diverse grosse Natur- und Tierschutzorganisationen zusammen mit dem Bauernverband einen Kompromiss ausgearbeitet haben und die neue Revision begrüssen. CH Wolf steht nicht hinter diesem Kompromiss und ist klar gegen eine präventive Regulierung. Ist bereits zu beobachten, dass sich die Wolfsrudel selber regulieren?
In der Schweiz kamen in den letzten Jahren zwei Wölfe bei Revierkämpfen ums Leben: Dies die Mutterwölfin des Ringelspitzrudels und ein abwanderndes Jungtier, das vom Morobbia-Rudel getötet wurde. Wenn die Reviere kleiner werden und das Nahrungsangebot dementsprechend sinkt, wirkt sich das auf das Gedeihen des Nachwuchses aus. Der Wolfsbestand wird nicht ins Unendliche ansteigen. Wenn alle möglichen Rudelgebiete besetzt sind oder die Nahrung knapp wird, regulieren sich die Wölfe selbst: Wolfsrudel müssen nicht reguliert werden. Wie hat sich der Herdenschutz im Kanton Schwyz unterdessen entwickelt? Schwyz ist ein ländlicher Kanton und sehr konservativ eingestellt. Die Leute sind hierzulande etwas stur und halten gerne an ihren Traditionen fest. Der Herdenschutz im Kanton Schwyz steckt noch immer in den Kinderschuhen. Viele Landwirte würden den Wolf lieber tot sehen als aufwendige Herdenschutzmassnahmen umzusetzen. Wenn sich ein Bauer dem Wolf gegenüber offen zeigt, wird er von anderen Landwirten gemobbt. Auch der Kanton selbst tut wenig, um den Herdenschutz voranzutreiben: Dabei würde er vom Bund Geld erhalten, wenn er Projekte realisiert. Hinzu kommt die im Kanton Schwyz gültige unsägliche Leinenpflicht für Hunde, die das Halten von Herdenschutzhunden erschwert. Überdies zeigt sich auch der Tourismus wenig erfreut über Herdenschutzprojekte.
«Wenn sich ein Bauer dem Wolf gegenüber offen zeigt, wird er von anderen Landwirten gemobbt.»
Wie wirkt sich die Existenz des Wolfes auf die Artenvielfalt und das Ökosystem aus? Förster freuen sich über den Wolf, weil er den Wildverbiss reduziert. Wildhüter sind angetan vom Wolf, weil dieser als Gesundheitspolizist auftritt und alte, kranke und schwache Tiere jagt: Damit werden Krankheitserreger dezimiert. Es bleiben gesunde, kräftige Tiere erhalten – ein Segen für die Populationen des Wildes. Der Wolf hat eine grosse Bedeutung für den ganzen Kreislauf in der Natur: Er räumt auf im Wald – andere Tierarten profitieren davon. Ist der Wolf gekommen, um zu bleiben? Ja, so könnte man es benennen. Der Wolf gehört unweigerlich in unsere Natur und hat eine wich-tige Funktion für Fauna und Flora. Der Wolf war ja die allermeiste Zeit hier in unserer Vegetation anzutreffen. Nur gerade in den letzten 150 Jahren war er weg, weil der Mensch ihn ausgerottet hatte: Eine kurze Zeitspanne im Verlaufe der ganzen Evolution.
Christina Steiner, Präsidentin des Vereins CH Wolf: «Der Wolfsbestand wird nicht ins Unendliche ansteigen. Wenn alle möglichen Rudelgebiete besetzt sind oder die Nahrung knapp wird, regulieren sich die Wölfe selbst: Wolfsrudel müssen nicht reguliert werden.» Foto: Magnus Leibundgut