«Lasst uns jubeln vor dem Herrn»
5 bis 7 Uhr: Zwei Stunden im Benediktinerkloster Einsiedeln – wenn sich die Mönche zur Vigil im Chor versammeln
Um 5.30 Uhr beginnt die Vigil: Zwei Dutzend Mönche der Benediktinerabtei Einsiedeln treffen zum Morgengebet ein. Ihren Ursprung hat die Vigil in den Nachtwachen der frühen Christen. Diese versammelten sich, um sich durch Fasten, Gebet und das Hören des Wortes Gottes auf ein Fest vorzubereiten.
MAGNUS LEIBUNDGUT
An einem Sonntagmorgen, um 5.25 Uhr in der Früh, erklingen die Glocken der Einsiedler Klosterkirche – der Tag bricht an. Das erste Morgenlicht bricht durch die Wolken hinter den Kirchtürmen – die Vögel singen und zwitschern, dass es eine wahre Freude ist.
Ich mache mich auf den Weg zur Hofpforte, an der mich Pater Lorenz Moser, Informationsbeauftragter des Klosters Einsiedeln, begrüsst und mir letzte Anweisungen gibt für die bevorstehende Vigil, das Stundengebet, mit dem die Mönche den Tag beginnen: «Bitte singen Sie nur zurückhaltend und lassen Sie den Stuhl nicht laut scheppernd zuklappen. » «Kommt, lasst uns jubeln dem Herrn – jauchzen dem Fels unsres Heils, Halleluja», singen die Mönche sehr berührend in einem deutschsprachigen Choral, der erklingt wie ein gregorianischer: «Lasst uns mit Dank seinem Angesicht nahen, ihm jauchzen mit Liedern! Denn ein grosser Gott ist der Herr, ein grosser König über allen Göttern. In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, sein sind die Gipfel der Berge. Sein ist das Meer, das er gemacht hat, das trockene Land, das seine Hände gebildet.» Wer in des Morpheus Armen ertappt wurde Der Psalm 95, den die Mönche da singen, ist überaus interessanter Natur, weil er zur Gattung der prophetischen Liturgie gehört und ein Orakel enthält: Der Psalm kann auf die Zeit nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft datiert werden, aus dem man herauslesen kann, dass sich die Gemeinde aufgrund ihrer elenden Verhältnisse gegen das Walten Gottes erhob.
Ich meinerseits muss mich gegen das Walten des Bruders Schlaf erheben und wehre mich dagegen einzunicken. Verstohlen blicke ich um mich, um zu erkunden, ob einer der Vigilantes zwischen den Reihen der Mönche mit einer Lampe umhergehe, um vom Schlaf Übermannte zu wecken. Denn früher im späten Mittelalter soll dies in Klöstern der Brauch gewesen sein: Wer in des Morpheus Armen ertappt wurde, musste zur Sühne die Lampe nehmen und selber den Rundgang fortsetzen. Ich habe keinen entdeckt.
Benedicamus Domino – Deo gratias Nachdem die Psalmen verklungen sind, beginnt die Lesung aus der Heiligen Schrift. Die Mönche folgen ihr reglos, den Kopf auf die Brust gesenkt. Nach der Lesung werden noch einmal Psalmen gesungen – und alle neigen ihre Häupter vor dem Altar. Schliesslich singen alle das «Te Deum» – und auch ich lobe den Herrn, weil er mich erlöst hat von meinem Zweifeln und mir das Gefühl des Unbehagens nimmt: Auch unter diesen gelehrten und frommen Mönchen säet das Böse zuweilen Streit, Neidereien und Hader, doch all das verge-het wie flüchtiger Rauch vor dem Sturmwind des Glaubens, so-bald sich die Bruderschaft wieder zusammenfindet im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
«Das war nun wohl ein Sprung in das kalte Wasser für Sie, diese Vigil, so früh am Morgen», sagt Pater Lorenz. Nun, das war es eigentlich nicht: Während eines einjährigen Aufenthalts in einem Kapuzinerkloster hatte ich bereits ausgiebig die Gelegenheit, das Stundengebet der Brüder kennenzulernen.
Allerdings sind wir in jenem Kloster in Rapperswil nicht von Mönchen geweckt worden, die mit einer Glocke durchs Dormitorium und durchs Pilgerhaus ziehen, während einer von Zelle zu Zelle geht und in jede hineinruft: «Benedicamus Domino». Was denn der Geweckte mit einem «Deo gratias» beantwortet. Von der Nachtwache zur Vigil
«Oh, diese Zeiten sind längstens vorbei, als wir durch den Weckbruder geweckt wurden», sagt Pater Lorenz lachend: «Ich schätze es, mich selbst aus dem Schlaf holen zu können.» Auch habe es im Kloster Einsiedeln den Brauch nie gegeben, dass einige Brüder am Abend nicht schlafen gehen, sondern die Nacht mit rhythmischer Rezitation einer vorgeschriebenen Anzahl von Psalmen verbringen, die so bemessen ist, dass sie ihnen die Stunden der Nacht anzeigt, dergestalt, dass diese Fratres Vigilantes, wenn die Zeit gekommen ist, ihre Mitbrüder wecken können.
Jedes Kloster hat seine eigene Prägung Was es aber immer gegeben hat: Im Kloster Einsiedeln gilt ein allgemeines Schweigegebot gemäss benediktinischer Ordensregel, das nur zu bestimmten Zeiten aufgehoben ist. «Das Schweigen, die Stille ist etwas sehr Schönes und Wertvolles», bemerkt Pater Lorenz: «Man wird sich dessen erst so recht bewusst, wenn das Stillschweigen durch lautes Reden gebrochen wird.» «Wir Benediktiner sind primär durch die gemeinsame Regel miteinander verbunden, die als 1500-jähriger Text natürlich immer wieder neu interpretiert und an die sich verändernden Zeitumstände angepasst wird», schildert Pater Lorenz: Dies geschehe von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land, ja oft so-gar von Kloster zu Kloster ganz unterschiedlich.
Somit habe jede benediktinische Gemeinschaft ihre eigene Prägung, die sich durch die eigene Geschichte, die Tätigkeitsfelder, die Zusammenstellung der Gemeinschaft und das Umfeld ergebe, konstatiert Pater Lorenz: «Dennoch ist das benediktinische Mönchtum bei aller Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nicht beliebig.» «Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein» Nach der Vigil dürfen die Mönche für leibliche Bedürfnisse hinausgehen, schreibt der heilige Benedikt in seiner Regel: Nebst der morgendlichen Toilette gehört heute auch die leibliche Stärkung für den nun angebrochenen Tag dazu.
Weil aber der Mensch nicht nur Leib, sondern auch Seele und Geist, ja alles dieses zusammen ist, brauchen auch Letztere eine ihnen gemässe Nahrung. «Der Mensch lebt eben nicht nur vom Frühstücksbrot allein », hält Pater Lorenz fest: In der morgendlichen Betrachtung stelle sich der einzelne Mönch ganz persönlich dem Worte Gottes in der Bibel. Er bleibe und wache, auch wenn Gott scheinbar nicht spreche.
Etwas später am Morgen, um 7.15 Uhr, versammeln sich die Mönche wiederum zum gemeinsamen Gebet im Chor der Kirche: Zur Laudes, in der die Brüder Gott loben im Gedenken an die Auferstehung, an das Aufbrechen des Lichtes aus der Finsternis des Todes, der kein Anrecht mehr auf die Menschen hat. Ich verabschiede mich von Pater Lorenz und ziehe meines Weges – nach durchwachter Nacht und mit wundersamen Choralstimmen im Herzen, die mich den Tag hindurch begleiten.
Pater Lorenz Moser auf dem Weg von der Vigil zum Frühstücksbrot.
5 Uhr in der Früh – der Tag bricht an. Fotos: Magnus Leibundgut
Das Responsorium entspricht einem liturgischen Wechselgesang: Die Psalmen und Lobgesänge werden in zwei Chören abwechselnd gebetet – die linke Seite antwortet der rechten.
Archivfoto: Jean-Marie Duvoisin