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«80 Prozent aller Menschen, die wir beraten, sind Frauen»

«80 Prozent aller Menschen, die wir beraten, sind Frauen» «80 Prozent aller Menschen, die wir beraten, sind Frauen»

Evelyne Marciante gibt nach 22 Jahren als Leiterin der Opferhilfe Schwyz und Uri ihr Amt ab. In den zwei Jahrzehnten hat sich in Bezug auf die Schutzmassnahmen gegen häusliche Gewalt einiges getan – mehr Ressourcen braucht es trotzdem.

ERIKA UNTERNÄHRER

Frau Marciante, Sie sind Leiterin der Opferhilfe Schwyz. Wie lange führen Sie dieses Amt schon aus und was genau sind Ihre Aufgaben? Ich leite die Opferhilfe seit 22 Jahren. Dieses Jahr gebe ich das Amt jedoch ab. Als Stellenleiterin bin ich eine Allrounderin: Ich berate, ich habe ein Auge auf die Finanzen, bin medial präsent. Des Weiteren ist die Vernetzung und der regelmässige Austausch eine wichtige Arbeit. So ist die Opferhilfe Schwyz in Kontakt mit Bund und Kanton sowie mit Sozialberatungen, Spitälern, der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Jährlich kommen wir mit den verschiedenen Stellen zusammen. Die Polizei veranstaltet Diskussionsrunden zu verschiedenen Themen – beispielsweise zu häuslicher Gewalt oder zu Menschenhandel. Da ist die Opferhilfe jeweils auch vertreten. Haben Sie schon eine Nachfolge für die Stellenleitung gefunden? Meine Nachfolge wird derzeit diskutiert. Näheres dazu kann ich noch nicht sagen. Ende März hat die Kantonspolizei Schwyz die neusten Zahlen der Kriminalstatistik kommuniziert. Zur häuslichen Gewalt hiess es, dass die Sicherheitskräfte jeden dritten Tag wegen eines Vorfalls ausrücken müssten. Welchen Anteil macht häusliche Gewalt bei der Opferberatung aus? 45 Prozent aller Menschen, die wir beraten, kommen als Opfer häuslicher Gewalt zu uns. In einer Interpellation von 2018 haben Kantonsräte nach den vom Kanton zur Verfügung gestellten Angeboten zum Schutz von gewaltbetroffenen Frau-en gefragt. In seiner Antwort schrieb der Regierungsrat, dass die Opferhilfe über Stellenprozente von insgesamt 110 Prozent verfüge. Reicht das, respektive wurde der Beschäftigungsgrad erhöht?

Das Stellenprozent hat sich seit dem Jahr 2018 auf 160 bis 180 Prozent erhöht. Seit zwei Jahren haben wir eine weitere Mitarbeiterin. Zu Beginn war sie zu achtzig Prozent angestellt – nun arbeitet sie Vollzeit. Schweizweit ist eine 24-Stunden-Beratung und -Erreichbarkeit geplant. Ziel ist es, dies bis 2023 zu ermöglichen, was jedoch sehr ehrgeizig gedacht ist. Sehr an Wichtigkeit gewonnen haben die sozialen Medien. Sie verbreiten unser Angebot nämlich nicht nur über eine grössere Fläche, sondern auch viel schneller. Das ist gut, denn: Je früher Betroffene sich an die rich-tige Stelle wenden, umso besser kann ihnen geholfen werden. Was erachten Sie als die wichtigste Veränderung, die Sie in Ihrer 22-jährigen Amtszeit miterlebt haben?

Im Jahr 2004 wurde häusliche Gewalt zum Offizialdelikt. Das heisst, häusliche Gewalt war keine Privatsache mehr. Das war der wichtigste Schritt, den ich erlebt habe. Da nämlich hat es endlich «Klick» gemacht. Von da an hat sich auch die Polizeiausbildung geändert. Die Devise, welche fortan galt, war: «Wer schlägt, geht». Man hat Opfer und Täter nicht mehr versucht davon zu überzeugen, sich nach einem gewalttätigen Vorfall friedlich zu benehmen. Stattdessen hat die Polizei begonnen, die Parteien zu trennen und sich beide Seiten des Sachverhalts und des Hintergrunds anzuhören. Welche Massnahmen sind bei häuslicher Gewalt sonst noch dazu gekommen? Heute können Staatsanwaltschaft und Polizei entsprechende Massnahmen direkt anordnen, zum Beispiel eine verpflichtende Beratung für Täter (hat es auch nicht immer gegeben) oder eine Untersuchungshaft. Bei verschiedenen Fällen von häuslicher Gewalt macht die Polizei eine Gefährdungseinschätzung. Wir von der Opferhilfe können unsere Fälle auch einschätzen lassen. Zudem wurde bei der Polizei ein Bedrohungsmanagement eingeführt. Eben erst im April dieses Jahres ist auch das neue Polizeigesetz in Kraft getreten, wonach neu der Einsatz einer Fussfessel ermöglicht wird. Beraten Sie auch männliche Opfer, die in den eigenen vier Wänden Gewalt erleben? Rund achtzig Prozent aller Menschen, die wir beraten, sind Frau-en. Nichtsdestotrotz gibt es aber auch männliche Opfer häuslicher Gewalt. Dennoch war und ist es noch immer ein Tabuthema. Lange war es so, dass Männer sich nicht getraut haben, derartige Vorfälle bei der Polizei zu melden. Auch denken viele, so meine Vermutung, dass sie eine Beratung nicht benötigen. Anstatt zur Opferberatung zu gehen, wenden sich Männer oft direkt an eine Anwältin oder einen Anwalt.

Wie gehen Sie vor, wenn eine betroffene Person – eine Frau – bei der Opferberatung anruft und um Hilfe bittet? Wir versuchen, uns eine Übersicht über ihre Gesamtsituation zu verschaffen: Gibt es Kinder? Sind die Schwiegereltern Teil des Haushalts? Hat die Frau einen Migrationshintergrund? Wie äussert sich die Gewalt? Haben sich derartige Vorfälle schon in der Vergangenheit ereignet oder ist es das erste Mal? Kam es tatsächlich zu Gewalt? Und: Wie wirken die Drohungen auf die Betroffenen? Im Beratungsgespräch klären wir weiter ab, ob bereits eine Strafanzeige gemacht wurde und ob die Polizei bereits vor Ort war oder schon mehrmals gerufen werden musste. Wichtig ist auch, ob es sichtbare Beweise für die Gewalt gibt. Inzwischen erkennen immer mehr Ärztinnen und Ärzte die Anzeichen und stellen die Aussage «Ich bin die Treppe hinuntergestürzt» in Frage. Je nachdem, was die Gewalteinschätzung ergibt und wie gross die Angst der Frau ist, werden entsprechende Schritte eingeleitet. Die Entscheidung, ob sie gehen oder bleiben will, liegt jedoch bei der Frau. Wenn die Betroffene weg will, unterstützen wir sie dabei, indem wir sie in einem Frauenhaus oder in einer geschützten Unterkunft platzieren. Oft wirkt sich die Distanz nach der Eskalation positiv auf den Konflikt aus. Viele Frauen wollen nach kurzer Zeit auch wieder zu ihrem Partner zurück, da sie Hoffnung schöpfen. Meine persönliche Meinung ist jedoch diese: Wer einmal schlägt, schlägt wieder. Darum erachte ich es als essenziell wichtig, dass sich der Täter nach dem Vorfall professionell beraten lässt. Tut er dies nicht, wird sich an der Situation ziemlich sicher nichts ändern … Kommen wir auf das Frauenhaus zu sprechen – respektive die Gründe, warum es im Kanton Schwyz keines gibt. Schwyz ist ein kleiner Kanton, in dem es schwierig bis unmöglich ist, den Standort eines Frauenhauses komplett anonym und geheim halten zu können.

Aber Tenero mit rund 2500 Einwohnern hat ein Frauenhaus, ebenso Vaduz mit einer Bevölkerung von 5700 Personen … Das mag sein, aber es gibt Frauenhäuser und «Frauenhäuser». Sie müssen sich vorstellen: Besteht für die Frau und ihre Kinder eine grosse Gefahr, bedarf es einem extrem hohen Schutz sowie einer professionellen Betreuung für die betroffenen Personen. In meinen Augen gleicht ein «echtes » Frauenhaus schon fast einer Hochsicherheitsfestung. Derartige Frauenhäuser gibt es in der Schweiz nur sehr wenige, so zum Beispiel in Luzern, Zürich oder Bern. Die Opferhilfe Schwyz arbeitet mit den ausserkantonalen Frauenhäusern zusammen. Wenn eine Frau platziert werden muss, kommt sie immer in einer dieser Institutionen unter. Alternativ verfügen wir in unserem Kanton über Notschutzunterkünfte, derer gibt es fünf. Auch dort erhalten die Opfer Betreuung, sind nicht alleine. Aller-dings handelt es sich bei den Betreuungspersonen nicht immer um Fachpersonen wie zum Beispiel Sozialpädagoginnen. Die Notschutzunterkünfte waren vor allem während des (Teil-)Lockdowns gefragt, als die ausserkantonalen Frauenhäuser teilweise über keine freien Kapazitäten mehr verfügten. Besonders schwierig war damals auch, dass viele unserer Klientinnen selber an Corona erkrankt waren, weshalb wir auch auf Hotelzimmer ausweichen mussten. Für die Offenheit dieser Hotels waren wir sehr dankbar. Einen sehr gefährlichen Fall würden wir aber immer ins Luzerner oder Zürcher Frauenhaus bringen. Wer übernimmt die Kosten bei einer solchen Massnahme? Die Opferhilfe Schwyz hat eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton. Das heisst, dass der Kanton die Kosten für die Beratungen sowie die Massnahmen, welche wir treffen, übernimmt. Frauen, mit oder ohne Kinder, welche im Frauenhaus platziert werden, haben einen Anspruch für eine 35-tägige Unterbringung. Nicht alle Frauen bleiben aber 35 Tage im Frauenhaus, manche verlassen es auch nach kürzerer Zeit. Wich-tig aber ist, und dies ist meis-tens nach spätestens 35 Tagen der Fall, dass die betroffenen Personen eine Nachfolgelösung finden. Dies, indem eine neue Wohnung weg vom gewalttätigen Partner arrangiert werden konnte oder weil die Gefährdung im eigenen Haushalt nachgelassen hat.

Was passiert, wenn die 35 Tage doch nicht reichen?

Dann können wir eine Verlängerung beantragen, sofern diese ausreichend begründet werden kann. Der Kanton trägt dann weiter die Vollkosten. Für das kommende Jahr ist eine neue Leistungsvereinbarung zwischen der Opferhilfe und dem Kanton vorgesehen. Welche Änderungen/Optimierungen sieht diese vor? Wir sind hier noch nicht ganz konkret, wobei wir gewisse Wünsche schon angebracht haben. Diese betreffen insbesondere die Ressourcen, damit wir flexibler arbeiten können. Auch möchten wir eine Software, welche uns das Erstellen von Statistiken erleichtert. Eine Automatisierung würde uns da viel Zeit sparen. Stehen mehr Ressourcen in Form von einem höheren Gesamtstellenprozent auch auf der Wunschliste? Wir müssen sicher darauf vorbereitet sein, dass mehr Fälle kommen werden. Ich verstehe, dass der Kanton Schwyz ein Fixbudget erstellen will. Dennoch müssen wir darauf achten, dass der Rahmen stimmt, damit wir unsere Arbeit optimal ausführen können.

Evelyne Marciante, Leiterin Opferhilfe Schwyz und Uri: «Schwyz ist ein kleiner Kanton, in dem es schwierig bis unmöglich ist, den Standort eines Frauenhauses komplett anonym halten zu können.» Foto: zvg

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