Flüchtlinge fühlen sich sehr wohl
Hilfsbereitschaft von Einsiedlern gegenüber Familien aus der Ukraine nimmt immer kreativere und geselligere Formen an
Durch den Krieg in der Ukraine verändert sich die Welt in Einsiedeln. Im Josefsdörfli soll bekanntlich bald ein Zentrum für Flüchtlinge entstehen. Derweil fühlen sich die Flüchtlinge, die bereits hier sind und privat untergebracht wurden, immer wohler. Nicht zuletzt dank der grossen Hilfsbereitschaft Einheimischer.
WOLFGANG HOLZ
Es fällt richtig auf. Einige Kinder vor dem Migros-Center in Einsiedeln steigen gut gelaunt auf ihre Fahrräder. Sie kommen gerade von der Schule und sprechen unüberhörbar ukrainisch miteinander. Sie gehören zu jenen ukrainischen Kindern und Erwachsenen, die neuerdings mit dem Velo im Klosterdorf unterwegs sind.
«Auf Initiative von Fabian Baumgartner und Marina Riedi spendeten Einsiedler dank eines Aufrufs Secondhand-Velos und Helme», erzählt Irina Bilyavska Camenzind. Irina Bilyavska, Präsidentin des Kulturvereins Dialog, selbst Ukrainerin und Helferin der ersten Stunde. Sie moderiert und koordiniert zunehmend die Hilfsbereitschaft zahlreicher Einsiedlerinnen und Einsiedler.
30 Velos in drei Tagen
Denn nachdem die Einschulung der bislang 21 ukrainischen Kinder und Jugendlichen an der Primarschule und der Sek in Einsiedeln sowie das komin-Deutschkurs- Angebot begeistert von den Flüchtlingsfamilien aufgenommen wurde, entdecken die ukrainischen Gäste zunehmend die Freizeitmöglichkeiten in der schönen Natur rund ums Klosterdorf.
In Sachen Secondhand-Velos etwa seien, so Bilyavska, innerhalb von nur drei Tagen 30 Räder von privaten Spendern zusammengekommen. «Und der Veloeggä zeigt sich grosszügig und bietet unter anderem an, die Fahrräder, falls nötig, gratis zu reparieren.» Die Kinder und Erwachsenen sollen auf diese Weise auch lernen können, in geordneten Bahnen sicher Velo zu fahren. «Denn in der Ukraine gibt es ja keine Velowege, und Radfahrer müssen aufgrund des gefährlichen Verkehrs auf Gehwege und in Parks ausweichen», erklärt Bilyavska.
Nicht nur mittels Velos sind Ukrainer aktiv draussen unterwegs. Einige Frauen haben inzwischen angefangen, per Nordic Walking die Umgebung zu erkunden. Der Verein «Dialog» hat bereits in fünf Paar Wanderstöcke investiert. Weitere Stöcke werden gerne entgegengenommen.
Kollekte von 4000 Franken
Yvonne Stojanovic hat angefangen, Kinderanzuleiten,mitStricklieseln bunte Schnüre zu stricken – damit es ihnen jetzt in den Ferien nicht langweilig wird. Und nicht nur das. Am 20. Mai um 17 Uhr treffen sich alle ukrainischen und einheimischen Kinder, die mit der Strickliesel begonnen haben, auf dem Klosterplatz, um zu messen, wer gewonnen hat. Wie lange wird wohl die Schnur, wenn Kinder sämtliche Wollfäden miteinander verbinden – umkreisen sie gemeinsam den ganzen Platz, das Kloster? Schaffen sie es bis zum Bahnhof? Für die Gewinnerin oder den Gewinner gibt es einen Preis und für alle, die mitmachen, ist es ein tolles Erlebnis. Stojanovic hat mit Kindern auch Osternestli gebastelt – um sie dann ihren Gastfamilien schenken zu können. «Denn viele ukrainische Kinder wuss-ten gar nicht, warum es plötzlich hier so viele Schoggihasen und Schoggieier vor Ostern gegeben hat», so Bilyavska. Übrigens verteilte die Katholische Kirche in Einsiedeln die Fastenkollekte vor Ostern in Höhe von rund 4000 Franken an ukrainische Familien.
Im Kino Trickfilm geschaut
Die Reformierte Kirche hat den ukrainischen Kindern einen Kinobesuch in der Einsiedler Cineboxx ermöglicht. Diese durften dort einen Trickfilm anschauen und erhielten Popcorn-Gutscheine. Das Kinoerlebnis hat den Kindern geholfen, ihre Kriegsbilder im Kopf zu verdrängen.
«Viele Kinder malten anfangs nur Bomben und schwarze Bilder », berichtet Bilyavska. Inzwischen haben Kinder begonnen, bunte Dankeskarten zu entwerfen und damit Personen zu beschenken, die ihnen geholfen haben.
Aber nicht nur für Frauen und Kinder hat das Leben in der Fremde neue Formen angenommen. Die ukrainischen Männer der Familien organisieren zunehmend ihre Freizeit. Wiederum dank einheimischer Initiative. «Fabian Baumgartner und Mirko Schneider haben eine Männergruppe ins Leben gerufen », sagt Irina Bilyavska.
Männergruppe fährt zum Fussballspiel nach Basel
Die Gruppe zählt bereits acht Mitglieder – darunter sechs Ukrainer. Die Verständigung erfolgt teilweise per Google-Dolmetscher auf dem Smartphone und dank Mirko Schneider, einem aus Ostdeutschland stammenden Einsiedler, der flies-send Russisch spricht.
Erstes Highlight: Die Gruppe fährt diese Woche nach Basel, um das Fussballspiel zwischen dem FC Basel und Dynamo Kiew anzuschauen. Dynamo ist ja der ukrainische Klub, in dem früher Weltstars wie Oleg Blochin kickten, und der momentan auf Benefiz-Tour in Europa unterwegs ist. Beim Spiel gegen Borussia Dortmund kamen schon rund 400’000 Franken aus Zuschauereinnahmen zusammen. Die Einsiedler Tickets fürs Dynamo- Spiel in Basel spendierte Fabian Baumgartner.
Auch mit dem Fischereiverein Einsiedeln wurden erste Kontakte geknüpft – denn viele Männer in Osteuropa gehen traditionell gerne angeln. «Und der Sihlsee mit den vielen Fischen hat es ihnen angetan», versichert Bilyavska. Die Einsiedler Fischer haben signalisiert, durchaus Bekanntschaft mit den Gästeanglern zu knüpfen. Zuerst sollen aber, mittels einer Übersetzerin, den Ukrainern die Regeln des Fischens am Sihlsee nähergebracht werden.
Auch ein Schrebergarten wird gesucht, in dem ukrainische Männer und Familien gerne im Garten arbeiten würden. Einige Männer, die aufgrund des offiziellen S-Status für ukrainische Flüchtlinge auch arbeiten dürfen, sind auf der Suche nach Jobs – in Gärten, in Restaurants, in Küchen, als Handwerker. Fast alles ist willkommen, um den furchtbaren Krieg, der noch immer in der Ukraine tobt, zu vergessen.
Nicht zuletzt dürfen sich Kinder mit Behinderungen aus ukrainischen Familien in Einsiedeln freuen. «Das Heilpädagogische Zentrum Ausserschwyz in Freienbach und die Sonnenbergschule in Baar haben sich bereit erklärt, einige Kinder aufzunehmen », sagt Irina Bilyavska.
Dank der Unterstützung durch die Schulpsychologin Katharina Brunisholz konnten drei ukrainische Jugendliche mit Beeinträchtigung eingeschult werden. «Das ist eine Herzenssache, ich freue mich besonders!», versichert Irina Bilyavska.
Der Kulturverein Dialog dankt allen Menschen, die grosszügig für die ukrainischen Familien gespendet haben.
Dank der Reformierten Kirche: In der Einsiedler Cineboxx durften ukrainische Flüchtlingskinder einen Trickfilm anschauen. Fotos: zvg
«Djakuju»: Selbstgemalte Dankeskarten der Kinder.
Wer hat die längste Strickliesl? Ein Wettbewerb wurde lanciert.
Dank gespendeter Secondhand-Velos können ukrainische Kinder und Erwachsene im hiesigen Verkehr Radfahren lernen.
Arbeit gesucht
Nordic Walking an der frischen Luft hilft, den Kopf frei zu bekommen.
«In der Ukraine gibt es ja keine Velowege, und Radfahrer müssen aufgrund des gefährlichen Verkehrs auf Gehwege und in Parks ausweichen.»
Irina Bilyavska, «Dialog»