«Ich war nicht überzeugt, dass ich überlebe»
Vor gut 25 Jahren befand sich der Einsiedler Arzt Claude Bavaud in Tadschikistan in Geiselhaft
Vor gut 25 Jahren musste er um sein Leben fürchten: Claude Bavaud. Der heute 80-jährige Einsiedler Arzt wurde bei einem UN-Einsatz 1997 in Tadschikistan von Mujaheddin- Rebellen gefangengenommen. Wie hat dies sein Leben beeinflusst?
WOLFGANG HOLZ
Herr Bavaud, Sie sind in Einsiedeln als Allgemeinarzt vielen Menschen bekannt – unterhalten Sie Ihre Praxis doch im Klosterdorf schon seit 1976. Mittlerweile sind Sie 80 Jahre alt und behandeln immer noch Patienten. Warum – einmal Arzt, immer Arzt? Weil ich diesen Beruf liebe und weil er meinem Leben Inhalt gibt. Er ist unwahrscheinlich vielseitig, spannend, braucht Verstand, Erfahrung, Takt, Empathie. Manchmal verlangt er handwerkliches Geschick, immer Kenntnisse in vielen Disziplinen, von Neonatologie bis Palliativmedizin. Es war mein Beruf, der mich in medizinischer und humanitärer Mission in viele Länder auf vier Kontinenten geführt hat. Es ist ein grossartiger Beruf, ich bin mit diesem Beruf verwachsen und solange die Gesundheit es zulässt, arbeite ich weiter.
Vor gut 25 Jahren steckten Sie als Arzt im Rahmen einer internationalen UN-Mission mitten im Bürgerkrieg im zentralasiatischen Tadschikistan fest und mussten um Ihr Leben fürchten. Können Sie uns in wenigen Sätzen sagen, wie es damals dazu gekommen war? Ja. Tadschikistan versank nach dem Untergang der Sowjetunion und, nach der Unabhängigkeitserklärung von 1991, im folgenden Jahr in einem Bürgerkrieg. Die Peacekeeping UN-Mission of Observers in Tajikistan (UNMOT) mit 55 Personen erhielt 1994 vom UN-Sicherheitsrat den Auftrag, einen dank der UN vereinbarten Waffenstillstand zu überwachen und mit den Parteien einen Friedensplan und eine politische Lösung zu erarbeiten. 1997 wurde der Friedensvertrag von der Regierung und der vereinigten Opposition (UTO) unterzeichnet, im Jahr 2000 wurde die UNMOT aufgelöst.
Tadschikistan ist entgegen den damaligen zivilisatorischen Absichten der UNO ein autoritär geführtes unfreies, korruptes, eher instabiles Land ohne freie Medien geblieben. In den 6 Jahren der Existenz der UN-MOT verloren 7 UN-Mitarbeiter das Leben. Und was haben Sie dort konkret gemacht?
Die Schweiz unterstützte die Mission mit Militärbeobachtern und mit der Swiss Medical Unit, bestehend aus zwei Militärärzten, einer Pflegefachfrau und medizinischer Infrastruktur. Ich war einer der beiden Ärzte und der Teamleader. Auf der Rückfahrt mit einem erkrankten österreichischen Militärbeobachter, den wir aus einem entfernten Teamsite evakuierten, wurden wir am 4.2.97 zu fünft von einer nicht zu den offiziellen Waffenstillstandsparteien zählenden, auf eigene Rechnung operierenden Bande gekidnappt.
Was macht das mit einem Menschen, wenn man als Geisel zehn Tage lang gefangen gehalten wird und dabei mehrere Male mit dem Tod bedroht wird? Nachdenklich. Ein Crashkurs in Metaphysik und Transzendenz. Man lernt, mit dem Leben jetzt sofort, nicht irgendwann mal, abzuschliessen, sich konkret mit dem jetzt oder morgen oder irgendwann entweder tatsächlich bevorstehenden, zumindest aber möglichen Tod auseinanderzusetzen. Konkret wünschte ich mir den von mir wegen seines schwarzen Kopftuchs so genannten Seeräuber, der mir sonst sympathisch war, zum Todesengel. Ein Schuss, vorbei. Dann der Aufstieg der Seele, von einem Himmelsengel begleitet, ins Licht. Da schwingt ein gewisser Galgenhumor mit. Was kann man in so einer Situation tun, um nicht zu verzweifeln? Die Situation war surreal. Aber nicht so schlimm. Wir waren zeitweise 11 Personen im gleichen Zimmer, Tag und Nacht, eine zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft von munteren Geiseln. Ein Decameron: Gespräche, Spiele, Witze, Spässe, dazu trockenes Fladenbrot, russischer Tee. Die Journalistinnen S., aus Dushanbe von Interfax, und G., Russin von Itar-Tass, dachten leise darüber nach, wen von den Anwesenden sie am ehesten heiraten würden und kamen auf mich. Es gab Zwiegespräche mit dem Berner Niklaus und mit Gottfried, dem Österreicher. Manchmal vergassen wir alles um uns herum und genossen, ohne an die bewaffneten Mujahedin nebenan zu denken, einfach nur das Zusammensein. Menschen sind ja stark im Verdrängen. Am Verzweifeln waren wir nicht. Sie hatten die Gelegenheit, per Satellitentelefon mit Ihrer Frau und Ihren Kindern während der Geiselhaft zu sprechen. Hat Ihnen das Kraft und Hoffnung gegeben? Oder waren Sie danach noch verzweifelter? Es entlastete mich, mit ihnen gesprochen zu haben, mich für den Fall, dass ich nicht zurückkäme, für immer verabschiedet zu ha-ben. Verzweifelt war ich, wie gesagt nicht, weder vor dem Anruf noch nachher. Ich war nur ziemlich besorgt.
Waren Sie selbst überzeugt, Sie überleben die Geiselnahme? Ihre Frau versicherte Ihnen ja irgendwann am Telefon, sie werde Sie auf dem Flughafen wieder als freier Mensch in Empfang nehmen.
Ich war gar nicht überzeugt, dass ich überleben würde. Ihr, wie sie später zugab, gespielter Optimismus gab mir dennoch ein bisschen Zuversicht, er veränderte vorübergehend das Denken.
SiewarenalsGeiselprivilegiert– weil Sie als Arzt auch von Ihren Geiselnehmern, tadschikischen Mujaheddin, um medizinische Hilfe gebeten wurden. Verleiht das eine gewisse Macht, eine gewisse Sicherheit? Nein, keine Macht, keine Sicherheit, es lenkte mich höchstens etwas ab, weil ich etwas zu tun hatte. Ich hätte ja zu einem Zeitpunkt, nachdem gerade eine scheinbare Exekution stattgefunden hatte, als nächster sterben sollen, Arzt hin oder her. Hat diese Geiselnahme Ihr späteres Leben verändert? Nein. Es war ein spannendes Erlebnis und ein Test für Resilienz, den ich, wie ich meine, bestanden habe. Aber geprägt hat mich die Geiselnahme nicht. Ich hatte keine Albträume, ich denke kaum je daran zurück, und wenn, dann emotionslos.
«Man lernt, mit dem Leben jetzt sofort, nicht irgendwann mal, abzuschliessen.»
Claude Bavaud vor seiner Praxis in Einsiedeln. Foto: Wolfgang Holz