Fährverkehr über den Sihlsee
Während der 15-monatigen Bauzeit des Willerzeller Viadukts bieten die SBB ein Alternativ-Angebot an
Statt mit dem Auto um den Sihlsee direkt darüber: Die SBB legen am heutigen Freitag mit der Fähre «MS Viadukt» erstmals ab.
VICTOR KÄLIN
Wegen Sanierungsarbeiten ist der Willerzeller Viadukt während 15 Monaten für jeglichen Verkehr gesperrt – für Fussgänger, Velofahrer und Automobilisten gleichermassen (EA 19/22). Vor allem bei den Willerzellern und Willerzellerinnen hält sich die Freude über diese Nachricht in Grenzen: Seit dem letzten Montag, 28. März, ist ihr Weg nach Einsiedeln deutlich länger geworden.
Im Halbstundentakt
Die SBB als Bauherrin haben das Wehklagen jedoch gehört – und Abhilfe geschaffen. Bereits fünf Tage nach Beginn der Brückensperre bieten sie allen Fussgängern, Velo- und Töfffahrern sowie Automobilisten eine Alternative an: das amphibische Motorschiff MS Viadukt. Es handelt sich dabei um eine Fähre, welche eigens für den Sihlsee entwickelt worden ist. Ab dem heutigen Freitag verkehrt sie im Halbstundentakt zwischen Gross (Anlegestelle Nügüetli) und Willerzell (Anlegestelle Büel).
Der Fahrplan ist auf die Postautokurse abgestimmt. Um einen möglichst hohen Dienstleistungsgrad bemüht, haben die SBB die Einsatzzeiten grosszügig angesetzt. Der erste Kurs der MS Viadukt läuft um 5.30 Uhr im Büel aus; der letzte um 23.30 Uhr an gleicher Stelle wieder ein. Um die Nachtsicherheit zu gewähren, ha-ben die SBB entschieden, die aus ihrer Sicht entbehrliche Strassenbeleuchtung des Willerzeller Viadukts entlang des Fährkurses zwischen dem Nügüetli und dem Büel zu setzen. Aufgrund der geringen Wassertiefe bieten sich die Strassenlaternen geradezu an, auf dem Seegrund verankert zu werden – und somit dem Schiff den Weg zu weisen. Die SBB betonen jedoch ausdrücklich, dass jedwelches Anbinden von Schiffen an den Strassenlaternen – wie dies Fischer etwa gerne machen – strengstens verboten ist. An Wochenenden und Feiertagen dauert der Fährverkehr von 7.30 bis 20.30 Uhr.
Eine Weltneuheit Die MS Viadukt ist eine technische Neuerung. Aufgrund des schwankenden Seespiegels und möglicher Seegfrörnis kam ein gewöhnlicher Typ eines Fährschiffs, wie es zum Beispiel zwischen Horgen und Meilen verkehrt, nicht in Frage. Schnell war klar, dass nur eine amphibische Fähre den ho-hen Ansprüchen eines Stausees genügen kann: Bei Niedrigwasser kann die Fähre ans Ufer rollen. Und ist der See zugefroren, kann die MS Viadukt elegant über das Eis fahren. Doch ein solch multifunktionales Vehikel existiert bis-her noch nicht. Bei der MS Viadukt handelt es sich also um eine Weltneuheit. Und mindestens schweizweit neu ist auch der Fährverkehr auf einem Stausee an und für sich.
Lokale Kompetenz siegte!
Aufgrund der Komplexität der Anforderungen gestaltete sich die Suche nach einem Erbauer als äusserst schwierig; schliesslich gingen zwei hiesige Unternehmen aus dem zweistufigen, international ausgeschriebenen Wettbewerb hervor. Es sind dies die «Bootswerft Sihlsee», ein Zweigbetrieb von Walter Ochsners Autohilfe Einsiedeln, sowie die Lüönd & Co. AG, Landmaschinen und Fahrzeugbau aus Unteriberg. Diese beiden Firmen setzten sich gegen hochkarätige Konkurrenz durch! Die Jury hob unter anderem lobend hervor, an der Einsiedler Zürichstrasse mit Autohilfe und Bootsbau die «perfekte amphibische Symbiose» vorzufinden. Die Bootswerft Sihlsee enttäuschte denn auch nicht und lieferte mit ihrem Eigenbau – schlicht Ochsner 1 genannt – noch im alten Jahr den gewünschten Mehrzweckrumpf.
Anfang Januar 2022 wurde Ochsner 1 nach Unteriberg zur Lüönd & Co. AG transportiert. Dieses Unternehmen hat sich auf Landmaschinen und Fahrzeugbau spezialisiert und sich insbesondere mit ihren selbstentwickelten Heckladern landesweit einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Die perfekte Adresse für die gesuchte Autorampe. Bei der MS Viadukt setzte die Firma Lüönd & Co. auf ihren bewährten Hecklader «Swiss-Elite». Bei einer Aufnahmebreite von 2,12 Metern konnte der selbstangepriesene «Weltrekord- Pick-up» gleich eins zu eins für das Untergestell verwendet werden. Das Fassungsvermögen der MS Viadukt beträgt vier Subarus, ein Traktor Hürlimann inklusive ein Lüönd-Hecklader.
Um den Komfort für die Passagiere zu erhöhen, wurden zwei klimatisierte Warteräume gebaut – einer für Raucher und einer für Nichtraucherinnen. Damit noch nicht genug. Sollte dereinst der von Ingenieur Edgar Kälin geplante, weltweit längste Fussgängersteg in Holz über den Sihlsee realisiert werden, stehen die vorgesehenen Solarzellen vollumfänglich dem einbaubaren Elektroantrieb der MS Willerzell zur Verfügung. Getreu dem Slogan: «Aus der Region – für die Region.» Vorderhand fährt die Sihlseefähre allerdings noch konventionell mit Diesel.
Flankierende Massnahmen Mit dem Büel auf der Willerzeller und dem Nügüetli auf der Grosser Seite konnten zwei problemlos anzusteuernde Anlegestellen gefunden werden. Im Nügüetli sind Parkplätze und Restaurant bereits vorhanden; die Infrastruktur im Büel musste hingegen komplett neu aus dem Boden gestampft werden. Dafür gibts eine Lösung par excellence – ein Drive-in-Fährenkaffee! Müssig zu erwähnen, dass es sich auch hierbei um eine Schweizer Neuheit handelt. Die Bauarbeiten sollten bis heute Freitag beendet sein (sollte es allerdings ein bisschen länger dauern, bitten die Betreiber um Nachsicht).
Aufgrund des Schichtbetriebs benötigt der Fährverkehr auf dem Sihlsee insgesamt zehn Mitarbeitende. Da Walter Grämiger die SBB beraten hat und gleichzeitig als Kapitän zur Verfügung steht, gestaltete sich die Rekrutierung problemlos. Als Bordmechaniker konnte gar Walter Ochsner gewonnen werden; allerdings handelt es sich hierbei lediglich um ein Teilzeitpensum.
Kundenfreundliche Tarife Um dem Fährbetrieb zum Durchbruch zu verhelfen, subventionieren die SBB die Fahrkosten. Es gilt generell der Ortsbus-Tarif, wobei die Willerzeller und Willerzellerinnen lediglich den halben Preis zu bezahlen haben (Ausweispflicht).
«An der Einsiedler Zürichstrasse gibt es mit Autohilfe und Bootsbau die perfekte amphibische Symbiose.»
Aus dem Jury-Bericht
Die Sihlseefähre MS Viadukt erlebt heute Freitag ihre Jungfernfahrt. Die Crew mit Chef-Kapitän Walter Grämiger und Bordmechaniker Walter «Pannenhilfe» Ochsner (beide links) stand für unseren Fotografen schon mal stramm.
Fotos: EA
Illustration: Lukas Schumacher Vom Büel auf der Willerzeller Seite (links) zum Nügüetli auf der Grosser Seite (rechts): Der gelbe Pfeil markiert den Kurs der MS Viadukt.
Die Anlegestelle auf der Willerzeller Seite befindet sich auf der Halbinsel Büel. Im Bild der Neubau des Drive-in-Restaurants. Foto: L. Schumacher
Mit Parkplatz und Restaurant ist die Fähr-Infrastruktur beim Nügüetli auf der Grosser Seite bereits vorhanden.
Foto: Wädi Kälin
Ein erster Entwurf der Fähre. © Bootswerft Sihlsee.
Aus wasserbeständigem Sihlsee-Treibholz gefertigt ist die Landeklappe der Sihlseefähre. Als Unterbau dient der Lüönd-Hecklader «Swiss-Elite».