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«Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter»

«Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter» «Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter»

Effi Spielmann ist seit bald fünf Jahren Leiterin der Fachstelle kirchliche Sozialberatung in Pfäffikon: «Die Pandemie hat die Situation für Menschen an der Armutsgrenze verschärft. Durch Corona haben sich Einsamkeit und Ängste noch verstärkt.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Mit welchem Budget war die Diakonie Ausserschwyz im Jahr 2021 unterwegs? Der Verein «Diakonie Ausserschwyz » ist Träger der Fachstelle: Er unterstützt die Pfarreien und Kirchgemeinden in den Bezirken March, Höfe und Einsiedeln in der Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben. Seine finanziellen Mittel werden in erster Linie durch die Beiträge der Ausserschwyzer Kirchgemeinden und der Pfarrei Einsiedeln erbracht. Im vergangenen Jahr hat der Verein einen Ertrag von gut 131’000 Franken erzielt – dies bei einem Aufwand von knapp 154’000 Franken. Dieses Defi-zit können wir gut verkraften, da wir noch Reserven haben.

Wie viele Leute haben Hilfe bei Ihnen gesucht?

Im letzten Jahr haben wir 183 Dossiers geführt – von diesen sind 93 neu eröffnet worden. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 haben wir 138 Dossiers betreut. Die Zahl der neu eröffneten Dossiers ist um einen Drittel angestiegen. Die Zunahme erklärt sich zum einen durch die immer stärkere Verbreitung der Armut in unserem Land. Zum anderen werden wir immer bekannter: Dadurch kommen automatisch immer mehr Leute zu uns, um sich Hilfe zu holen. Im letzten Jahr haben wir 172 Kindern eine Hilfe zukommen las-sen können. Die Pandemie hat die Situation für Menschen an der Armutsgrenze eindeutig verschärft.

Mit welchen Geldbeträgen konnten Sie Betroffenen im letzten Jahr unter die Arme greifen? In der Regel ist der Maximalbetrag 500 Franken, die wir theoretisch einer Person geben können. Im Einzelfall kann dieser Betrag erhöht werden, wenn eine ausreichende Rechtfertigung vorliegt. Üblicherweise bezahlen wir mit diesem Geld offene Rechnungen. Ganz selten kann es vorkommen, dass wir Bargeld auszahlen. Wir geben des Weiteren Einkaufsgutscheine, Lebensmittel und Hygieneartikel ab. Wie wird die Diakonie Ausserschwyz finanziert? Die katholischen Kirchgemeinden zahlen pro Anzahl ihrer Mitglieder Beiträge zuhanden des Vereins. Auch die reformierte Kirchgemeinde Höfe unterstützt uns. Dann gibt es noch die Mitgliederbeiträge des Vereins. Hinzu kommt eine Spendenkasse, die nichts mit dem Verein zu tun hat: In diese Kasse fliessen Gelder aus Spenden, Kollekten und Erbschaften, womit wir unsere Klienten unterstützen können.

Wie ist es zum Aufbau der Diakoniestelle Ausserschwyz gekommen?

Bereits seit längerer Zeit gibt es die Kirchliche Sozialberatung Innerschwyz (KIRSO) in Goldau: Sie ist eine professionelle Anlauf- und Beratungsstelle für Personen aus der Region Innerschwyz. Menschen in schwierigen Lebenslagen finden hier Beratung, Begleitung, Seelsorge – unabhängig von Religion und Konfession. Die KIRSO war Vorbild für den Aufbau der Diakonie Ausserschwyz, die schliesslich im Herbst 2017 eröffnet wurde. Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied: Bei der Diakonie Ausserschwyz werden Vereins- und Überbrückungskasse strikt getrennt. Die Idee war, eine zentrale Beratungsstelle in Pfäffikon aufzubauen, anstelle kleiner Pensen in einzelnen Pfarreien zu schaffen.

Ist die Armut ein immer drängenderes Problem in unserer Gesellschaft? Alleine aus Einsiedeln haben im letzten Jahr 27 Personen bei uns um Hilfe nachgesucht: Ein Zeichen dafür, dass es auch im Klosterdorf Armut gibt. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter. Unterdessen geht man davon aus, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung in der Schweiz arm ist. Als arm gilt eine Person, wenn diese nicht mehr in der Lage ist, eine ausserordentliche Rechnung (zum Beispiel eine Zahnarztrechnung) in der Höhe von 2500 Franken zu bezahlen. Es handelt sich hierbei meist um eine versteckte Armut: Die Leute können aus Geldmangel nicht mehr am öffentlichen Leben teilhaben und schämen sich gleichzeitig für ihre Armut. Bei den Sans Papiers ist die Armut in der Pandemie sichtbar geworden, weil sie für die Essensabgabe auf die Strasse treten mussten. Beobachten Sie eine steigende Zahl von Armut Betroffenen, die bei der Diakonie Ausserschwyz um Hilfe bitten? Ja, das zeigen unsere Zahlen eindeutig auf – die Corona-Pandemie hat das Armutsproblem massiv verstärkt: Leute mit Kurzarbeit hatten nur noch achtzig Prozent ihres Niedriglohns zur Verfügung – das hat dann nicht mehr gereicht, um die anfallenden Lebenskosten berappen zu können. Auch Personen im Stundenlohn, die wegen Corona ihren Job verloren haben, sind in Teufels Küche geraten. Welche Gründe liegen vor, dass Menschen in die Armut absinken?

Kinder, Scheidung, Alleinerziehung, Jobverlust, geringer Lohn und Migration können Armut auslösen. Hinzu kommen Krankheitsfall, psychische und physische Versehrtheit und Schicksalsschläge: Zu diesen kann zum Beispiel ein Brand führen – wenn im Vorfeld keine Versicherungsbeiträge geleistet wurden (für die das Geld gefehlt hat …). Überdies verhalten sich Sozialversicherungen immer rigider, sanktionieren härter, zahlen etwa gar nichts mehr aus, wenn einem Betroffenen ein Fehler unterlaufen ist, wenn er ohne böse Absicht auf einem Formular etwas falsch ausgefüllt hat.

Wäre das Sozialamt verantwortlich, Bedürftige zu unterstützen? Zum Teil ja, zum Teil nein. Was macht man mit Fällen, die ganz knapp die Bedingungen nicht erfüllen, vom Sozialamt unterstützt zu werden – und die doch zu wenig haben für das Leben? Dann stellt sich die berechtigte Frage, ob es sich lohnt, we-gen einer einzigen ausstehenden Zahnarztrechnung die ganze Maschinerie in Gang zu setzen, um sich beim Sozialamt anmelden zu können. Es gibt naturgemäss auch Leute, die sich schämen, auf das Sozialamt zu gehen – obwohl sie klar und eindeutig dazu berechtigt sind. Diese Personen ermutigen und unterstützen wir, den Gang aufs Sozialamt zu wagen: Indem wir im Ausnahmefall gar zusammen aufs Amt gehen. Beraten Sie auch Flüchtlinge?

Ja. Auch bei Migranten ist oftmals eine Angst spürbar: Sie befürchten, wegen des Gangs auf das Sozialamt ihren Status C zu verlieren und stattdessen ein B zu erhalten, wenn sie nicht mehr für ihr Leben aufkommen können. Ich kann da allerdings ein Stück weit Entwarnung geben: Das Schwyzer Migrationsamt verhält sich nicht so rigide wie man manchmal glaubt.

Welche sozialen Fragen stehen im Fokus der Beratungsgespräche – nebst den finanziellen Fragen?

Wohnung, häusliche Gewalt, Trennung, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Sucht, Religionsfragen, mangelnde Integration, Familien und Erziehungsfragen oder Krach mit dem Vermieter: Die Liste mit den Gründen ist ziemlich umfangreich, welche die Leute zu uns führen mag. In einem bestimmten Fall sind wir derweil die falsche Anlaufstelle: Wir übernehmen keine Schul-den und zahlen keine Darlehen aus.

Wie sieht die Betreuung für Menschen in Not konkret aus?

Wir beraten und begleiten Menschen in Not. Für deren Betreuung in engerem Sinne sind andere Stellen zuständig: Wir gehen also nicht zu den Leuten nach Hause – vielmehr kommen sie zu uns. Wir nehmen uns Zeit für die Betroffenen: Ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee und einem Schöggeli kann durchaus zwei Stunden lang dauern (ein Erstgespräch bei der Sozialberatung in einer Gemeinde dauert maximal 25 Minuten – aus Zeitgründen). Mit einem offenen Ohr und einem offenen Herzen zuzuhören, gehört immer zu einer kirchlichen Sozialberatung dazu. Oftmals sind wir so etwas wie eine Triage: Wir schicken die Leute auf die für sie geeignetsten Stellen. Beobachten Sie das vermehrte Aufkommen von Einsamkeit in der Bevölkerung?

Einsamkeit ist ein Thema, das an sich in unserer Gesellschaft um sich greift. Durch die Corona- Pandemie haben sich Einsamkeit und Ängste sicher noch verstärkt: Die Leute konnten we-gen des Lockdowns nicht mehr hinausgehen, fühlten sich allein und einsam. Die Pandemie hat die Integration der Menschen in unserer Gesellschaft verhindert. Wenn es um Einsamkeit geht, leiten wir die Leute oftmals weiter an Psychologen und Psychiater, an Fachleute für seelische Belange.

Sind Depressionen ein Thema, das die Menschen beschäftigt? Depressionen sind eng verknüpft mit Armut: Armut verhindert die Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft – just dies führt zur Vereinzelung und schliesslich zur Depression. Was auch auffällt: Die Menschen leiden immer mehr unter Stress am Arbeitsplatz. In der Folge gibt es Burnouts und Depressionen – im schlimmsten Fall droht der Verlust der Arbeitsstelle. Und wer den Job verliert, ist gefährdet, in die Armut zu geraten – ein Teufelskreis. Hilft die Diakonie Ausserschwyz Flüchtlingen aus der Ukraine, die in unser Land kommen? Wir haben in der Flüchtlingsfrage gewissermassen eine Scharnierfunktion inne und sind eine Anlauf- und Informationsstelle: So versuchen wir zu verhindern, dass nichts Übereiliges in Angriff genommen wird. Wo kann man spenden? An wen kann man sich wenden, wenn man Wohnraum für Flüchtlinge aus der Ukraine anbieten möchte? Wir sind verbunden mit zahlreichen Freiwilligen aus Kirchgemeinden und Pfarreien, die helfen wollen. Und wie auch sonst alle anderen Menschen darf natürlich jeder Flüchtling bei uns anklopfen.

Mit welchen Herausforderungen sieht sich die Diakoniestelle Ausserschwyz in der Zukunft konfrontiert? Fakt ist: Die soziale Not in unserer Gesellschaft wird immer grösser, die Armut nimmt generell zu. Absehbar ist, dass die Zahl der Flüchtlinge steigen wird – nicht zuletzt auch wegen des Klimawandels. Dann haben wir zusätzliche Aufgaben übernommen wie den Schreibdienst, dank dem wir Leuten beim Formulieren von Bewerbungsschreiben und Gesuchen unter die Arme greifen können. Die Arbeit geht uns also sicherlich nicht aus. Derzeit können wir die anfallende Arbeit mit dem bestehenden Pensum gut und erfolgreich bewältigen. Ob dereinst eine Vergrösserung des Teams notwendig sein wird, zeigt sich in der Zukunft und hat der Verein zu entscheiden.

Effi Spielmann leitet die Diakoniestelle Ausserschwyz: «Alleine aus Einsiedeln haben im letzten Jahr 27 Leute bei uns um Hilfe nachgesucht: Ein Zeichen dafür, dass es auch im Klosterdorf Armut gibt.» Foto: zvg «Die Corona-Pandemie hat das Armutsproblem massiv verstärkt.» «Ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung in der Schweiz ist arm.» «Es gibt Leute, die sich schämen, auf das Sozialamt zu gehen.» «Wer den Job verliert, ist gefährdet, in die Armut zu geraten.» «Einsamkeit und Depressionen sind eng verknüpft mit Armut.» «Die soziale Not in unserer Gesellschaft wird immer grösser.»

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