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«Die Zeit des Schmetterlingszählens ist vorbei»

«Die Zeit des Schmetterlingszählens   ist vorbei» «Die Zeit des Schmetterlingszählens   ist vorbei»

VICTOR KÄLIN

Der Ukraine-Krieg beeinflusst auch den Parlamentsbetrieb. Gestern Donnerstag bekräftigte der Nationalrat mit 125 zu 56 Stimmen bei 8 Enthaltungen die Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat. Etliche Ratsmitglieder hadern mit dem Entscheid. Inwieweit sich das Mittun im Sicherheitsrat mit der herkömmlichen Schweizer Neutralität vereinbaren lässt, ist heftig umstritten. Was halten Sie davon?

Die Neutralität hat unserem Land und unserer Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten Sicherheit und Frieden gebracht. Dank der Neutralität wurden wir von Konflikten verschont, weil wir nie als Kriegspartei eingestuft wurden. Nun will die Mehrheit des Parlamentes und des Bundesrates dies aufgeben und auf der grossen Weltbühne mitmischen. Das ist brandgefährlich und bringt der Schweiz weniger Sicherheit und mehr Gefahren. Sie verweisen darauf, dass die Ukraine die Kornkammer Euro-pas und gleichzeitig der weltweit grösste Düngerexporteur ist; deshalb wollen Sie vom Bundesrat wissen, was dieser im Hinblick auf die Ernährungssicherheit «gegen die drohende Krise» zu unternehmen gedenke. Welche Möglichkeiten sehen Sie als Landwirt? Vor was wir von der SVP schon lange warnen, tritt nun leider ein: Ein schlechtes Erntejahr 2021 und nun der Konflikt in einer der fruchtbarsten Regionen der Welt wird zu einer riesigen Unterversorgung der Welt mit Nahrungsmitteln führen. Deshalb setzen wir uns bereits seit Jahren dafür ein, den Selbstversorgungsgrad in der Schweiz möglichst hoch zu halten. Stand heute hat im Ernstfall nur jeder zweite zu es-sen. Da rächt sich nun, wenn die Importe plötzlich nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen. Nun muss ein Umdenken in der Ernährungspolitik stattfinden. Die Zeit des Schmetterlingszählens ist vorbei.

Ebenfalls in die Kategorie Versorgungssicherheit gehört die Sorge der SVP zur Entwicklung des Benzinpreises. Ihre Partei macht Druck auf den Bundesrat, damit dieser eingreift. Was soll der Bundesrat denn tun? Und welche Preisobergrenze ist Ihrer Meinung nach noch tolerabel?

Wir fordern, dass der Staat in dieser Krise auf die Steuern auf Treibstoffe verzichtet. Aktuell kassiert der Staat bei jedem Liter Benzin oder Diesel kräftig mit. Knapp die Hälfte des Preises an der Zapfsäule gehen zum Staat. Dies soll ausgesetzt werden. Es sind immense Kosten, welche vor allem Pendler, Familien, Handwerker belasten. Nach einer kontroversen Debatte rund um die Sicherheitspolitik des Landes hat der Nationalrat den Sicherheitspolitischen Bericht hingegen einstimmig zur Kenntnis genom-men. Dennoch beauftragt die Grosse Kammer die Regierung, in einem Bericht darzulegen, inwiefern die Schweiz von Beeinflussungsaktivitäten und Desinformationskampagnen betroffen ist und was dagegen unternommen werden könnte … Ich war dagegen. Denn es ist eine Scheindebatte, die bei diesem Vorstoss geführt wurde. Wir müssen uns endlich um die wichtigen sicherheitspolitischen Fragen kümmern. Die Armee braucht endlich genügend finanzielle Mittel, um die Sicherheit gewährleisten zu können. Und es braucht dringend eine Erhöhung des Armeebestandes um mindestens 20’000 Militärangehörige.

Bleiben wir für eine weitere Frage noch beim Militär: Den Zivildienst abschaffen oder die Frau-en zum Dienst verpflichten – diese zwei Modelle zur Bestückung von Zivilschutz und Armee verfolgt der Bundesrat weiter. Das birgt politischen Zündstoff. Wie ist Ihre Meinung in dieser Frage? Die Frauen zum Dienst verpflichten, ist eine Illusion. Wir haben heute bereits Frauen in der Armee, die motiviert sind. Das muss der Weg sein. Aber Potenzial haben wir beim Zivildienst. Seit der Abschaffung der Gewissensprüfung wandern Tausende potenzielle Armeeangehörige in den Zivildienst ab. Das muss gestoppt werden.

Noch einmal international: Der Nationalrat stimmt einem Postulat der grünliberalen Fraktion zu und beauftragt somit den Bundesrat, den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erneut zu prüfen. Was ist Ihre Meinung dazu? Das Schweizervolk hat zu dieser Frage entschieden. Kein Beitritt zum EWR. Der Schweizerweg ohne Beitritt zur EU und zum EWR ist ein Erfolgsmodell. Nirgends in Europa ist die Arbeitslosigkeit tiefer. Nirgends ist zum Beispiel die Mehrwertsteuer tie-fer. Wir haben eine äusserst leistungsfähige Wirtschaft. Es gibt absolut keinen Grund, uns hier in ein Korsettt zu begeben. Mit dem EWR-Beitritt müssten wir EU-Recht übernehmen. Die SVP hat dies als einzige Partei abgelehnt.

Wechseln wir zum Inland: Der Nationalrat will den Anbau von Pflanzen erlauben, die mit neuen gentechnischen Verfahren gezüchtet wurden. Obwohl das Einbringen von artfremdem Genmaterial verboten bleiben soll, ritzt das Parlament am Gentech-Moratorium. Welche Ansicht vertreten Sie? Die Änderung, die das Parlament beim Gentechnikgesetz vorgenommen hat, ritzt das Moratorium nicht. Es ist eine Möglichkeit, bei der Gentechnik einen vernünftigen Weg zu gehen. Diesen können wir auch aus landwirtschaftlicher Sicht unterstützen. Es wird beim neuen Verfahren keine artfremde DNA eingesetzt.

Der Nationalrat hat vorgestern Mittwoch entschieden, dass Raser nicht mehr in jedem Fall hart bestraft werden sollen. Erst 2013 wurde diese Strafnorm verschärft; und bereits lockert der Nationalrat die Bestimmungen. Weshalb? 2013 wurde vor lauter Aktivismus völlig übertrieben. So können zum Beispiel Fahrer von Feuerwehrfahrzeugen, von Ambulanzen im Einsatz wegen Raserei verurteilt werden. Und dies nur, weil sie schnell helfen wollen. Hier brauchen die Gerichte einen Handlungsspielraum, den sie heute nicht haben. Auch deshalb haben wir über Lockerungen beraten. Der Ständerat muss nun auch noch entscheiden. Thema im Nationalrat waren auch die sogenannten «Knebelverträge » von Buchungsplattformen für die Hotellerie. Der Nationalrat ist der Ansicht, dass Hotels ihre Zimmer auf der eigenen Website günstiger anbieten dürfen als auf Buchungsplattformen. Er will die Preisbindungsklauseln künftig verbieten – und Anbietern wie beispielsweise Booking.com noch engere Grenzen setzen. Auch hier soll der Staat regulierend eingreifen. Was ist Ihre Meinung? Ich habe hier zugunsten des Tourismus, der Hotellerie entschieden. Diese Knebelverträge der grossen Firmen wie Booking. com knechten die Hotels regelrecht. Hier müssen wir Leitplanken setzen. Zugunsten der einheimischen Hotellerie.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Marcel Dettling

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