«Wir wollen alle nur Frieden»
Zu Besuch bei der Ukrainerin Tanja Dyadina-Gatti in Einsiedeln
Der Konflikt in der Ostukraine ist eskaliert: Seit gestern bombardieren russische Militärs ukrainische Städte. Der Krieg ist ausgebrochen. Wie geht es da einer Ukrainerin, die schon seit neun Jahren in Einsiedeln lebt? Ein Besuch.
WOLFGANG HOLZ
Tanja Dyadina-Gattiist eine grosszügige Gastgeberin. Höchst appetitlich sehen die «Blintschiki» aus, die sie am Dienstagnachmittag in einer Glasschale auf dem Esszimmertisch arrangiert hat und dem Besucher anbietet. Die köstlichen, dünnen Pfannkuchen sind entweder mit Fleisch und Zwiebeln gefüllt oder akkurat als leichtes Häppchen gefaltet. Daneben steht eine Metallvase mit dem Schriftzug «Love». Man fühlt sich sofort wie zu Hause. «Bitte greifen Sie zu», sagt die 46-Jährige freundlich und lächelt – und stellt noch einen Espresso dazu.
Mutter aus Ukraine zu Gast
Neben ihr nimmt gerade Tochter Polina Platz. Die 17-jährige Coiffeuse- Lehrtochter hat heute ihren freien Tag. Wie ihre Mutter, die sowohl im Service im neuen «Silo»-Restaurant arbeitet als auch in der «Pitsch»-Bar. Ehemann Domenico ist Busfahrer und fährt am heutigen Nachmittag seine Tour. Ihr kleiner Sohn Nicolo ist noch in der Schule. Ja, und auf dem Sofa sitzt Tanjas 74-jährige Mutter Anna – die aus der Ukraine angereist ist, um die Familie ihrer Tochter wieder einmal zu besuchen.
«Ich habe meine Mutter das letzte Mal vor vier Jahren in Kriwoj Rog, unserer Heimatstadt in der Zentralukraine, besucht», erzählt Tanja Dyadina. Kriwoj Rog ist eine riesige Grossstadt mit viel Metallurgie – «die zweitlängste in Europa». Auch ihre Schwester lebt dort, ebenso wie ihr Onkel und ihre Tante. «Wir stehen regelmässig in Kontakt – über Politik reden wir aber kaum.»
«Es ist eine Katastrophe.»
Tanja Dyadina-Gatti Doch jetzt ist plötzlich alles anders. Ganz anders. Die Ukraine, ihr Heimatland, wird seit gestern von russischem Militär angegriffen, bombardiert und mit Granaten beschossen. «Es ist eine Katastrophe. Gestern habe ich natürlich gleich mit meiner Schwester, mit Freunden und Verwandten telefoniert und gefragt, wie die Lage vor Ort jetzt bei ihnen aussieht – es ist eine Katastrophe», sagt Tanja Dyadina. Sagts und bricht in Tränen aus. «Ein Militärlager in der Nähe von unserer Stadt ist von russischen Militärs beschossen worden.» Gespaltenes Land
Sie weiss nicht, wie es jetzt weitergeht. Sie tut sich im Grunde schwer mit einer persönlichen Einschätzung der politischen Krise. «Schliesslich lebe ich hier in der Schweiz, und ich kann deshalb von hier aus nicht wirklich beurteilen, was dort gerade passiert», bekennt sie. Natürlich habe sie mitbekommen, dass viele Menschen in der Ukraine momentan Angst haben. «Denn niemand will Krieg – wir wollen alle nur Frieden. Die Politiker müssen wieder mehr miteinander reden, mehr Diplomatie betreiben», meint sie.
Die Ukraine, die eigentlich 1917 gegründet wurde, aber nach zwei Jahren schon zur sozialistischen Sowjetunion gehörte, wurde bekanntlich erst nach dem Zerfall des kommunistischen Riesenreichs 1991 ein unabhängiger Staat. Gleichwohl ist und bleibt es ein gespaltenes Land. Im Kohle und Stahl produzierenden Osten leben vor allem russischstämmige Ukrainer, im europäisch ausgerichteten Westen dagegen «ukrainische» Ukrainer.
Und seit acht Jahren gibt es nun schon bekanntlich einen bewaffneten Konflikt zwischen russischen Separatisten und ukrainischen Soldaten an einer Frontlinie in den zwei international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. 14’000 Tote hat es bereits gegeben. Russlands Präsident Wladimir Putin hat diese beiden Republiken ja jüngst anerkannt. Und nun ist der Krieg mit der Ukraine komplett ausgebrochen.
Auch in Tanja Dyadinas Familie gibt es verschiedene Zugehörigkeiten. «Meine Mutter und ich sind russischstämmig, mein verstorbener Vater war Ukrainer. » Gesprochen werde in ihrer Heimat sowohl Ukrainisch wie Russisch, Russisch sei aber traditionell die Hochsprache. Das Zusammenleben habe trotz der Unterschiede bis jetzt funktioniert.
Die 46-Jährige möchte selbst nicht mehr auf Dauer in der Ukraine leben – auch wenn sie ab und zu das köstlich schmeckende, aromatische Gemüse vermisst, das in der fruchtbaren, heimischen Schwarzerde so gut gedeiht. «Meine Mutter hat eine Datscha und in ihrem grossen Garten wächst sozusagen alles », schwärmt Tanja Dyadina. Sogar Wassermelonen.
Flug zurück in die Heimat?
Zwar sehne sie sich manchmal danach, hier wie in der Ukraine im warmen Sommer luftige, schöne Kleider tragen zu können. «Doch in der Schweiz habe ich viel mehr Chancen – vor allem im Beruf», sagt sie. Auch gefällt ihr die Natur in Einsiedeln sehr. Seit neun Jahren lebt sie nun mit ihrer Familie hier. Tochter Polina hat sich sogar schon einbürgern lassen – wartet aber immer noch sehnlichst auf ihren roten Pass. «Das Leben in der Schweiz ist natürlich besser», steht für sie fest.
Mutter Anna sitzt auf dem Sofa. Auch sie hat geweint. Eigentlich sehnt sie sich nach ihrem Garten zu Hause – wo es bald Frühling wird. Nach Katze, Hund und Enkeln. Sie ist schon Urgrossmutter. «Doch jetzt wis-sen wir nicht, wann sie überhaupt zurückfliegen kann, weil die Flüge nach Kiew ja momentan eingestellt wurden», sagt Tanja Dyadina-Gatti. «Theoretisch kann sie drei Monate bei uns bleiben», versichert sie. Sagts und freut sich, dass ihre Mutter bei ihr in Sicherheit ist.
Ihnen gefällt es prima in Einsiedeln: Tanja Dyadina-Gatti (46) mit ihrer Tochter Polina (17). Jetzt fürchten sie um ihre Angehörigen in der Ukraine. Fotos: Wolfgang Holz / zvg
Köstlich: Ukrainische «Blintschiki».
Kriwoj Rog: Das ist die Heimatstadt von Tanja Dyadina-Gatti.
Schon seit acht Jahren gibt es bewaffnete Konflikte in der Ostukraine, nun hat Russland die Ukraine angegriffen und bombardiert.