Veröffentlicht am

Unsagbares Leid schreibend zur Sprache gebracht

Unsagbares Leid schreibend zur Sprache gebracht Unsagbares Leid schreibend zur Sprache gebracht

«Das Schweigen brechen»: Buchvernissage von Gisela Föllmi im Bistro Tulipan

Was Gisela Föllmi in ihrer Kindheit und Jugend von ihrem Stiefvater und ihrer Mutter angetan wurde, ist unsagbar grausam. Jahrzehntelang hat sie ihre Traumata verdrängt, mit leidvollen Folgen für ihr Leben. Die Veröffentlichung ihrer Autobiografie ist für die Autorin befreiend und heilsam zugleich.

GINA GRABER

Das Bistro Tulipan füllte sich am Freitagabend zusehends, Gisela Föllmi begrüsste viele Besucherinnen und Besucher vor Beginn der Veranstaltung persönlich und herzlich, ihre Nervosität liess sie sich nicht anmerken. Die allgemeine Betriebsamkeit wurde verstärkt durch die Anwesenheit eines Kameramannes und eines Tontechnikers, welche die Buchvernissage für das Schweizer Fernsehen aufzeichneten.

Auch Gabriella Baumann, die Verlegerin des Buches «Das Schweigen brechen», war nervös, zumal sie heiser war und kaum sprechen konnte. «Giselas Geschichte hat mir die Sprache verschlagen», entschuldigte sie sich beim Publikum. Die Verlegerin und ihr Mann, Fernsehmoderator Frank Baumann, haben Gisela Föllmi während der Entstehungszeit ihres Buches begleitet und unterstützt, Frank Baumann führte als Gesprächspartner und Freund achtsam durch die Veranstaltung. Zum Einstieg und zwischen den Gesprächsteilen las Brigitte Matern, die Lektorin des Buches, Passagen daraus. Beginn der Sterbenssehnsucht

Gisela Föllmi, geboren 1964, erzählte in nüchternen Worten von ihrer Kindheit in Zürich, von den frühen, unbeschwerten Jahren bis zu dem Moment, als sie von ihrem Stiefvater fast zu Tode gewürgt wurde, gerade einmal drei Jahre alt war sie. Der Moment des Würgens bezeichnet die Autorin im Nachhinein als Nahtoderlebnis, denn je fester ihr Hals zugedrückt wurde, desto intensiver geriet sie in einen Zustand der Ruhe und des Friedens, dem sie fortan immer nachtrauerte: «Ich liess damals einen Teil meines Lebensstroms zurück, er kam nie wieder zurück, es war der Beginn meiner Sterbenssehnsucht.» Niemand schöpfte Verdacht Als ob körperliche Gewalt und psychische Demütigung durch die Eltern für ein Kind nicht schon genug wären, begann für Gisela Föllmi im Alter von sieben Jahren zusätzlich der systematische, sexuelle Missbrauch. Aus einer Geldknappheit heraus «verkaufte» der Stiefvater das Mädchen für sexuelle Handlungen an einen Geschäftskumpanen. Daraus entwickelte sich ein regelrechtes Kinderpornografie- Geschäft, das in demselben ehrbaren Mehrfamilienhaus stattfand, in dem die Familie lebte, wo es Nachbarinnen und Mitbewohner gab, von denen in all den Jahren nie jemand Verdacht schöpfte – oder schöpfen wollte.

Ob sie das alles denn nie als schlimm empfunden habe, wollte Frank Baumann von Gisela Föllmi wissen. Aber sie kannte ja nichts anderes, die Eltern beruhigten sie stets, alles was mit ihr geschehe sei «normal». Die ständige Gewalt an Körper und Seele bildeten ein Fundament der Angst, die zum Lebensbegleiter wurde. Was sie als Kind fühlte, interessierte niemanden. Deshalb verdrängte und verstaute sie das Erlebte in der Untiefe ihrer schwer verletzten Seele, negierte jahrzehntelang jegliche Übergriffe, selbst in der Psychotherapie, die Gisela Föllmi, seit sie erwachsen ist, in Anspruch nimmt.

«Brocken für Brocken alles auskotzen» Mit einem so schweren Rucksack zu leben ist ein immerwährender, zehrender Kraftakt. Schliesslich hat das Schreiben Gisela Föllmi geholfen, die versiegelten Kammern ihrer Kindheit zu öffnen. Dass sie sich schreibend an ihre Vergangenheit heranzutasten lernte, verdankt sie nicht zuletzt auch der körperbezogenen Feldenkrais-Therapiemethode, die sie durch Zufall entdeckte. Das stückweise Hervorholen des Erlebten, es zu Papier zu bringen, welches man anfassen und zu Hause auf dem riesigen Esstisch ausbreiten konnte, war wichtig für die eigene Wahrnehmung der Autorin. Schreiben bedeutete für Gisela Föllmi: «Brocken für Brocken alles auskotzen. »

«Ich lasse meine innere Sekretärin schreiben»

Schreibend tauche sie in ihre Vergangenheit ein, erzählte sie im Gespräch mit Frank Baumann eindrücklich: «Plötzlich geht es in die Tiefe und dann bin ich nicht mehr auf einer bewussten Ebene, ich klinke mich aus, lasse ‹meine innere Sekretärin› schreiben. Dann hackt es einfach ohne Punkt und Komma, danach muss ich mich hinsetzen und lesen und dann erst kommt bei mir an, was ich geschrieben habe. Es ist das Kinder-Ich, das schreibt, denn wenn ich als erwachsene Frau schreiben müsste, was ich erlebt habe, würde ich das nicht aushalten.» Zur Aufarbeitung von Gisela Föllmis Geschichte gehört auch ein kürzlich erfolgter Besuch in der ehemaligen Wohnung in Zürich, was ihr vom jetzigen Mieter freundlich gestattet wurde. Als sie nach dem Besuch wieder im Tram sass, fühlte sie sich frei im Wissen, dass ihr diese Wohnung nichts mehr anhaben kann.

«Röbi ist ein Held»

Gisela Föllmi hat Selbstmordversuche hinter sich, wird noch immer jede Nacht von Albträumen heimgesucht und steht heute doch mitten im Leben. Einen Menschen gibt es, der ihr seit fast fünfundzwanzig Jahren zur Seite steht, sie auffängt und mit seiner Liebe trägt: ihr Mann Röbi. Sichtlich gerührt beschreibt sie ihre Beziehung: «Er ist mein Fels in der Brandung, das Beste, was mir passieren konnte im Leben, unglaublich, was dieser Mensch jeden Tag für mich leistet.» Röbi Föllmi erwähnte in seinem liebevollen Schlusswort, dass er viele Rückmeldungen von Familienvätern bekomme, die sich Gedanken darüber machten, was Kindern Schreckliches angetan werde. Das Buch seiner Frau erfüllt in seiner Direktheit und Ungeschöntheit deshalb auch die wichtige Funktion, dass das Thema Kindsmissbrauch präsent bleibt, dass Angehörige, Freunde und Nachbarinnen im Verdachtsfall nicht wegschauen und -hören sollen.

Gisela Föllmi ist eine leidenschaftliche Köchin, die gerne Gäste bekocht: «Beim Kochen kann ich zu mir kommen, kann kreativ sein. Und am Schluss steht etwas Feines auf dem Tisch. Das ist mein Ding!» Ganz in ihrem Sinn wurde die Buchvernissage in geselliger Runde mit feinen Grillbratwürsten beendet.

Die Autobiografie «Das Schweigen brechen» von Gisela Föllmi ist im Buchhandel erhältlich. Ein ausführliches Interview mit der Autorin ist am Freitag, 5. November, im EA erschienen.

Gisela Föllmi ist sichtlich gelöst nach der eindrücklichen Präsentation ihrer Autobiografie. Sie wird flankiert von Moderator Frank Baumann (links) und ihrem Mann Röbi Föllmi (rechts). Mit dabei war auch das Schweizer Fernsehen.

Fotos: Gina Graber

«Es ist das Kinder-Ich, das schreibt, denn wenn ich als erwachsene Frau schreiben müsste, was ich erlebt habe, würde ich das nicht aushalten.»

Gisela Föllmi

Share
LATEST NEWS