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«Durch Hitze sterben mehr Menschen als durch Stürme und Überschwemmungen»

«Durch Hitze sterben mehr Menschen als durch Stürme und Überschwemmungen» «Durch Hitze sterben mehr Menschen als durch Stürme und Überschwemmungen»

Ende Oktober erläuterte Gerhard Schmitt an der SmartSuisse in Basel, was Architektur und Stadtplanung für eine gesündere Zukunft beitragen können.

VICTOR ÅKÄLIN

In den Grossstädten unserer Welt wird es heiss und heisser. Wie dramatisch ist die Lage? Die Hitze in den Städten ist zur existenziellen Bedrohung geworden. Städte sind weltweit für 70 Prozent der Wärme- und CO2Emissionen verantwortlich. Die gute Nachricht ist, dass sie damit auch die Lösung des Problems in der Hand haben.

Die Lage hat sich in wenigen Jahrzehnten dramatisch verschlechtert und betrifft Städte und Siedlungen aller Grösse. Sie ist vor allem tragisch in den Tropen und Subtropen, wo der Grossteil der Weltbevölkerung lebt. Dort sterben durch Hitze mehr Personen als durch Hurrikane,Tornados oder Überschwemmungen. Menschen reagieren darauf, wenn sie können, durch Flucht in kühlere Gegenden. In unseren Breitengraden wird die Hitze im Sommer zunehmend gefährlich durch die Kombination von globaler Erwärmung und Hitzewellen. Dies beeinträchtigt die Lernfähigkeit und die Gesundheit und damit die Zukunft ganzer Regionen. Wo steht die Schweiz angesichts dieser globalen Entwicklung?

Die Schweiz ist heute durch ihre Lage in Europa und ihre Topografie begünstigt – ein Klima-Luxusland. Allerdings ist in der Schweiz die Temperatur in den letzten 150 Jahren mit 2,1 Grad noch schneller gestiegen als im globalen Kontext mit 1 Grad. Als hochentwickeltes und reiches Land hat die Schweiz mehr Optionen als ärmere Gegenden: Die Städter können in Hitzeperioden Kühl-Technologien einsetzen, und sie können in kühlere Gegenden wie in den Bezirk Einsiedeln «flüchten». Beides führt jedoch zu erhöhtem Ressourcenverbrauch und damit zu mehr Hitze und Treibhausgasen.

Ihr Vortrag an der SmartSuisse war dem Thema «Architektur und Stadtplanung für eine gesündere Zukunft» gewidmet. Ihr Denkansatz setzt voraus, dass sich Städte – von Ihnen «urbane Wärmeinseln» genannt – selbst kühlen können. Wie kann man sich das vorstellen? Städte sind gleichzeitig Verursacher und Opfer der Emissionen und damit der Erwärmung. Unser Hauptziel ist die gesündere Stadt mit niedrigerem Ressourcenverbrauch sowie höherem und besser verteiltem Wohlstand. Dies kann nicht mehr durch Bekämpfung der Symptome erreicht werden, sondern wir müssen die Hauptgründe für Luftverschmutzung, Lärm, steigende Temperaturen und unnötigen Verkehr eliminieren. Also integrierte Stadtentwicklung und statt Klimaanlagen weniger fossile Geräte in den Städten: Dekarbonisierung durch erneuerbare Energien, was Lärm, Luftverschmutzung und Abwärme aus den Städten herausnimmt.

Deshalb braucht es planerische, bauliche und individuelle Massnahmen, die am besten im Konsens zwischen Verwaltung – Governance – und der Bevölkerung entstehen. Das gilt sowohl für bestehende wie neue Städte. Und kann das funktionieren? Gibt es Beispiele aus der Praxis, oder ist das bisher erst Zukunftsmusik?

Es wird funktionieren, denn neue Technologien erlauben höhere Wertschöpfung, Work-from-Home, ein Zusammenrücken von Wohnen und Arbeiten, also weniger Pendlerverkehr. Und zum Glück haben Wissenschaft und Industrie seit Mitte des letzten Jahrhunderts die Technologie für die Dekarbonisierung vorbereitet. Die Schweiz deckt seit Jahrzehnten mit Wasserkraft einen Grossteil ihres Strombedarfs. Und sie wird es, auch durch Importe, hauptsächlich mit Photovoltaik und Wind erreichen, einen immer grösseren Anteil der fossilen Brennstoffe zu ersetzen. Beispiel Strassenverkehr: Die Elektrifizierung von Personenwagen, der Bus- und Lastwagenflotten, nimmt Fahrt auf. Beispiel Energie für Gebäude: Die ETH hat mit dem SAC schon 2008 auf 2883 Metern Höhe die während der Nutzung im Sommer praktisch autarke Neue Monte-Rosa-Hütte errichtet; es gibt in Schweizer Städten zunehmend Bauten, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen, und meine Familie hat gerade ein Haus fertiggestellt, das doppelt so viel Energie in das Netz einspeist, wie es für Heizen, Kühlen, Haushalt und Mobilität benötigt.

Die Antwort auf Ihre Frage ist also ein klares Ja für die Industrieländer; die weniger wirtschaftsstarken Regionen brauchen vorübergehend Unterstützung für die Dekarbonisierung. Was kann die Schweiz tun, um ihre eigenen Wärmeinseln zu kühlen und somit lebenswerter zu machen? Die Schweiz kann das sehr gut. Es ist wie in den anderen Klimazonen die Kombination von intelligenter Planung und der Ersatz fossiler Brennstoffe. Die Planung für die lebenswerte Stadt muss nicht nur nachhaltig, sondern regenerativ sein, also den Status Quo verbessern. Zum Beispiel muss sie garantieren, dass notwendige Korridore zur Belüftung unbebaut oder niedrig bebaut bleiben, dass genügend Bäume an den geeigneten Orten stehen, dass durch gemischte Zonenplanung der Pendlerverkehr niedrig bleibt.

Dazu entwickeln wir Modelle und digitale Zwillinge der Stadt, um so die besten Szenarien zu entwerfen. Ein Beispiel: Energie und Verkehr waren die ersten digitalen Zwillinge, die wir beim Bau der ETH Science City erprobten. Das führte zur Errichtung eines grossen dynamischen Erdspeichersystems: alle Gebäude sind unterirdisch wärmetechnisch vernetzt, im Sommer wird überschüssige Wärme im Boden gespeichert, im Winter mit Wärmepumpen zur Heizung genutzt. Das Resultat: weniger Abwärme, keine Luftverschmutzung, Einsparungen in Millionenhöhe pro Jahr. Zur Verkehrsplanung: Am Tag arbeiten fast so viele Menschen auf dem Campus Hönggerberg wie im Bezirk Einsiedeln wohnen. Doch mehr als 90 Prozent kommen nicht mit dem Auto. Und wie kann man sich einen solchen Prozess vorstellen – mit Auflagen, Vorschriften, Bussen …?

Am besten wirkt die direkte Demokratie in echter Partizipation vor den Abstimmungen. Dieses Thema der gesunden und regenerativen Stadt ist so umfassend und lebensnotwendig, dass es überparteilich und im Konsens angegangen werden muss. Das langfristige Ziel ist eigentlich unbestritten, die Information ist vorhanden, aber in der Umsetzung erscheinen Zielkonflikte. Diese müssen auf den Tisch und offen beraten werden.

Wir haben dazu ein Verfahren entwickelt, das wir «Citizen Design Science» nennen. Bürgerinnen und Bürger (Citizens) entwerfen (Design) zusammen mit der Wissenschaft (Science) eine gemeinsame Zukunft. Die in der Schweiz und besonders in Einsiedeln etablierten Vorgehensweisen in Vereinen, Parteien und im Bezirk eignen sich gut dazu. Sehr wichtig ist auch der Einbezug des lokalen Gewerbes, der Industrie und der Kultur von Anfang an, denn daraus entstehen die Berufe der Zukunft. Die SmartSuisse richtet sich direkt an Städte- und Gemeindevertreter. Sind die von Ihnen geschilderten Wärme-Szenarien bereits in den Köpfen der hiesigen Verantwortungs- und Entscheidträger?

Ja. Seit der ersten Smart Suisse 2017, in der Einsiedeln mit den Beratungen zum Willerzeller Viadukt eine prominente Rolle einnahm, hat sich die Technologie und besonders die Digitalisierung rapide entwickelt. Die Reduktion des Berufsverkehrs, erzwungen durch Corona, und die Erfahrung Tausender Städter in den Bergen der Region haben vielen den Wert und die Möglichkeit alternativer Lebens- und Arbeitsmodelle aufgezeigt. Klimanotstand und Kreislaufwirtschaft (Re-Use statt Re-Cycling), neben der Digitalisierung und neuen Verkehrsmöglichkeiten zwei der grossen Themen dieses Jahres an der SmartSuisse, stossen auch in Einsiedeln auf Interesse.

Unser Ansatz, mit digitalen Zwillingen der Stadt vor allem das Klimaproblem und nicht die Personenüberwachung anzugehen, fand auch bei der Industrie Zustimmung. Und Platz für innovative Spin-offs wie up-Volt, die gebrauchte Batterien aus E-Fahrzeugen für lokal produzierte Energie nutzen, gibt es wie im Smart City Lab Wolfsareal Basel auch in Einsiedeln – vielleicht eine ideale Ergänzung für den Einsiedler Energiestadt Förderpreisträger von Burg. Einsiedeln mit seiner kühlenden Höhenlage von 900 Metern ist da sicherlich aus dem Schneider …

Die Schweiz hat viele unterschiedliche lokale Klimazonen. Diejenigen, die zur Arbeit pendeln, erfahren dies täglich. Die grossen dichten Städte wie Zürich und Basel sind im Sommer zunehmend von Hitzewellen betroffen, dort ist die Durchschnittstemperatur noch mehr gestiegen als im Schweizer Durchschnitt.

Bei uns in Einsiedeln wird es wärmer im Sommer und weniger kalt im Winter. Deshalb ist die Dramatik der Entwicklung hier kaum direkt nachvollziehbar. Wir sind zwar «Verursacher» der globalen Erwärmung – daran müssen wir arbeiten – aber weniger «Opfer», da die resultierenden Temperaturen noch in unserem Komfortbereich liegen. Wahrscheinlich ein zunehmend starker Grund für die steigende Attraktivität Einsiedelns. Und wie sollte, oder müsste es weitergehen? Das Thema wird für alle Menschen in der Region spürbar. Und da klare Aussagen zu den Gründen der Entwicklung und zu möglichen Lösungen bestehen, kann die Umsetzung direkt beginnen. Bei jedem Spin-off, jeder Firmengründung, jedem Umbau, bei jedem Neubau, privat oder öffentlich. Der Bezirk als Bauherr hat eine starke Vorbildfunktion, die er in den Grossprojekten Einsiedlerhof und Bahnhofsgebiet sowie bei der Anwerbung neuer Firmen sicher einsetzen wird. Firmen und Private werden ihre best-practice Erkenntnisse beisteuern. Es ist eine grosse Hilfe für diejenigen, die wir mit unseren zu hohen Emissionen belasten. Es ist vor allem die verantwortungsvollste Investition in die Berufe und die Gesundheit unserer Kinder. Und was ich sonst noch sagen wollte … Das Kloster und die Einwohner von Einsiedeln haben vor mehr als 1000 Jahren gegen ein kaltes raues Klima und im «Finstern Wald», zwar mit intellektueller Hilfe von aussen, aber ohne mit heute vergleichbarer Technologie einen einmaligen Ort geschaffen. Heute ist das Klima milder und ermöglicht neue lokale Berufe – von der Landwirtschaft über Work-from-Home-Plattformen bis zu Hochtechnologie und Kultur.

Am 30. Oktober veranstaltete der Bezirk einen gelungenen Zuzüger-Anlass. Die Teilnehmenden, viele junge Familien, schätzten die herzliche Begrüssung sehr. Sie bringen neue Ideen, Wissen, Verbindungen und Ressourcen in die Waldstatt und bedanken sich so für das Privileg, in Einsiedeln zu wohnen. Nutzen wir diese Chance für Einsiedeln als regeneratives Gemeinwesen, das wie bei der Umsetzung grosser Projekte – Kloster, Dorf, Benziger, Sihlsee, Welttheater, Energiestadt – weit in die Zukunft denkt.

An der SmartSuisse 2021 in Basel referierte Gerhard Schmitt Ende Oktober über Architektur und Stadtplanung und deren Aufgaben für eine gesündere Zukunft. Foto: zvg «Auch in Einsiedeln sind wir zwar Verursacher der globalen Erwärmung, aber weniger Opfer.» Prof. Dr. Gerhard Schmitt

Vi. Gerhard Schmitt (Egg) ist emeritierter Professor für Informationsarchitektur an der ETH Zürich und Gründungsdirektor des Singapore-ETH Centre. Er und seine Forschungsgruppe initiierten das Cooling Singapur Projekt, das die Ursachen urbaner Wärmeinseln identifiziert und mit Hilfe von digitalen Zwillingen simuliert. Für das nachhaltige Science City Projekt der ETH Zürich erhielt er 2010 den Europäischen Wissenschaftskulturpreis.

Seit diesem Jahr ist Gerhard Schmitt auch einer der sieben Autoren des «Seitenblicks», der neuen Rubrik des Einsiedler Anzeigers. Sein Grundthema lautet: Future Cities.

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