«Rothenthurm habe ich bereits ins Herz geschlossen»
Seit fünfzig Tagen ist Viktor Hürlimann Pfarradministrator in Rothenthurm. Der 52-jährige Geistliche blickt zurück auf seine Amtszeit in der Pfarrei im urnerischen Erstfeld und freut sich auf die neue Herausforderung: «Rothenthurm erinnnert mich an meine Heimat in Walchwil.»
MAGNUS LEIBUNDGUT
Wie kommt es dazu, dass Sie ausgerechnet in Rothenthurm als Pfarradministrator gelandet sind?
Es war nach 13 Jahren in Erstfeld Zeit für einen Wechsel. Ich bin jetzt 52 Jahre alt: Ein ideales Alter, um nochmals eine neue Stelle anzutreten. Ich freue mich sehr auf die neue Herausforderung: Rothenthurm erinnert mich an meine Heimat in Walchwil: Es ist ganz ähnlich wie auf dem Walchwilerberg. So betrachtet kommt es mir vor wie ein wundersames Nachhausekommen. Ich habe mich denn auch schon bestens an meiner neuen Stätte einleben können: Rothenthurm habe ich bereits ins Herz geschlossen. Was erwarten Sie von Ihrer neuen Pfarrei in Rothenthurm? Dass ich gerne auf Menschen treffen kann, die Freude am Glauben haben und finden. Haben Sie vom Urnerland genug gesehen, dass Sie Erstfeld den Rücken kehren? Ich bin jetzt insgesamt 22 Jahren lang im Urnerland gewesen und kenne dort so viele Menschen, dass ich kaum mehr aus der Arbeit gekommen bin. Ich hatte praktisch jede Woche eine Beerdigung. Ich war auf dem Weg, müde zu werden, und habe erkannt, dass ein Wechsel gut anstehen würde: Nicht nur für mich selber, sondern auch für die Pfarrei. Sind Sie sich bisweilen mit den Urnern in die Haare geraten? Die Urner sind sehr friedliche, zurückhaltende Leute: Es bräuchte schon sehr viel, um mit einem Urner in einen Streit zu geraten (lacht). Die Urner sind nicht so direkt wie die Schwyzer oder die Walchwiler. Von daher liegt mir die Mentalität der Rothenthurmer näher, weil die Walchwiler eigentlich vom Wesen her betrachtet wie die Schwyzer sind. Wo gehobelt wird, fallen Späne: Kam es innerhalb der Pfarrei in Erstfeld zu Unstimmigkeiten? Nein, von Unstimmigkeiten würde ich getrost nicht sprechen. Die Pfarrei war vielmehr von Pech verfolgt: Im Jahr 2019 sind vier Mitarbeiter in der Pfarrei von Unfällen heimgesucht worden und ausgefallen. Und dann habe ich mich noch selbst mit einer Sense an der Hand verletzt. Das sind alles Zeichen Gottes, die für einen Wechsel gesprochen haben – nachdem wir eine Renovation erfolgreich abschliessen konnten.
Könnte es sein, dass Rothenthurm Ihre letzte Station ist als Seelsorger in einer Pfarrei? In der Regel sind die Pfarrpersonen in Rothenthurm nicht mehr weggegangen und denn hier begraben worden.
Das kann ich mir gut vorstellen, ja: Allerdings wüsste ich jetzt gerade nicht, wo denn schliesslich mein Grab zu liegen käme … (lacht). Ich kann mir gut vorstellen, hier während 22 Jahren zu wirken: Dann wäre ich am Ende meiner Amtszeit 75 Jahre alt: Ein ideales Alter, um als Pfarrer in Pension zu gehen.
Welches Kirchenbild prägt Sie?
Oh, das sind ganz viele. In Bewegung zu bleiben ist mir wichtig – und alle Gläubigen mitzunehmen und zu integrieren: Die Menschen liegen mir alle am Herzen. Dass wir wieder eine Volkskirche wie früher werden, ist demgegenüber kaum eine Möglichkeit: Es wird etwas anstelle der Volkskirche hervortreten, was auch immer. Viele Geistliche brennen aus in diesen Zeiten und flüchten dann in ein Sabbatjahr. Sind Sie selber jemals in die Nähe eines Burnouts geraten? Nein, das nicht gerade. Solange ich Momente des Gebets, der inneren Einkehr, der Besinnung finde, bin ich nicht gefährdet auszubrennen.
In der Kirche herrscht ein akuter Pfarrermangel. Wieso ist der Priesterberuf im 21. Jahrhundert ein dermassen schwieriger geworden?
Dass nur noch ein kleiner Pool an Leuten Freude am Glauben hat, mag mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben: Der christliche Glauben verdunstet zusehends. Ob das Image des Pfarrerberufs gelitten hat, finde ich unerheblich: Schon damals, als ich diesen Beruf in Angriff genommen habe, kümmerte es mich wenig, wie es um das Ansehen dieses Berufsstandes bestellt sei. Mich interessierte einzig das Mysterium, Christus zu dienen. Auf welchem Weg ist die katholische Kirche unterwegs? Sie ist auf vielen unterschiedlichen Wegen unterwegs. In Europa befindet sich die Kirche im Gegenwind: Hierzulande hat es die Religion an sich schwer, weil eine religiöse Haltung gesellschaftlich betrachtet abhanden kommt. Ich nehme eine allgemeine Entfremdung gegenüber den Religionen wahr. Allerdings sieht dies auf anderen Kontinenten wieder anders aus: Afrika etwa ist ein Hort des Glaubens. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem synodalen Prozess, den Papst Franziskus initiiert hat?
Man soll nicht alles hinterfragen und nicht immer eine zweifelnde «Ja, aber …»-Position vertreten. Ich trete ein für einen Glaubensoptimismus und finde nicht, dass man an dieser Synode alles in der Kirche verändern müsste. Haben Sie jemals am Zölibat gezweifelt? Nein, das habe ich nicht. Wenn ich Ja zu etwas sage, sollte ich mich auch ans Wort halten und es durchziehen. Die Enthaltsamkeit bringt viele Vorteile mit sich. Abgesehen davon gibt es auch in der reformierten Kirche einen Pfarrermangel, obwohl die Pfarrer nicht zölibatär leben müssen. Corona hat in diesem und im letzten Jahr das Pfarreileben geprägt. Wie gehen die Gesellschaft, die Christen aus dieser Krise hervor? Man sollte nicht nur an die Lunge denken, sondern auch ans Herz: Es fällt den Leuten immer schwerer, die Meinung der anderen akzeptieren zu können. Der Graben in der Gesellschaft wird immer tiefer. Ich selber finde es etwas übertrieben, dass in einer so grossen Kirche wie in Rothenthurm nur maximal fünfzig Personen einen Gottesdienst besuchen dürfen: Wieso berücksichtigt man nicht die Grösse eines Gotteshauses? Es wäre einfach, in der Rothenthurmer Pfarrkirche den notwendigen Abstand einhalten zu können. Solange die 50er-Regel gilt, wird bei Bedarf der Kirchenkeller geöffnet und der Gottesdienst akustisch dorthin übertragen. Dort können weitere fünfzig Personen den Gottesdienst mitfeiern. Auch im Kirchenkeller wird die heilige Kommunion gespendet. Ist das Virus womöglich eine der sieben Plagen der Endzeit? Leben wir in apokalyptischen Zeiten? Ich glaube nicht daran, dass die Apokalypse nach Johannes in der Zukunft spielt und prophetisch gedacht werden soll: Vielmehr findet die Apokalypse immerzu in der Gegenwart statt. Wir müssen uns nicht ängstigen vor einem drohenden Weltuntergang: Wir sind in Gottes Händen. In Freude und Hoffnung trotzen wir Trauer und Angst.
Seit dem 1. August amtet Viktor Hürlimann als Pfarradministrator in Rothenthurm: «Ich bin glücklich darüber, hier zu sein.» Foto: Magnus Leibundgut