Das eine Thema vereint und sensibilisiert
Ein nächtlicher Streifzug durch Einsiedelns Beizen am ersten Freitag nach dem Lockdown
Die grosse Party war es nicht. Eher ein Klassentreffen: Herzlich statt laut und vernünftig statt rauschend. Gar keine schlechte Mischung.
TEXT: VICTOR KÄLIN FOTOS: LUKAS SCHUMACHER
Die Freude an der Arbeit und die Freude an den Gästen waren für die befragten Wirte und Wirtinnen die beiden wesentlichen Gründe, ihr Lokal (siehe Kasten) bereits am 11. Mai wieder zu öffnen. «Wir dürfen und wir wollen arbeiten», fasste eine Gastgeberin zusammen. Auch die eigene Langeweile und – natürlich – die Einnahmen waren ausschlaggebend: «Noch länger zuwarten, und es geht finanziell bachab.» Nicht alle haben das Glück, dass der Besitzer eine ganze Monatsmiete erlässt, wie eine Wirtin freudig und dankbar erzählt.
* Um die Abstandsregeln einzuhalten, wurden viele Tische verschoben. Aber nicht überall auch die Hängelampen. Manch ein Gast hatte anderntags Kopfweh – für einmal nicht vom Alkohol … * Die Vorschriften des Bundesamtes für Gesundheitswesen und das Schutzkonzept von Gastro-Suisse wurden, soweit ersichtlich, in Einsiedeln schon fast vorbildlich umgesetzt: Begrüsst wurde man immer von einer Flasche Desinfektionsmittel. An einem Ort gabs gar Schutzmasken und Gummihandschuhe, was zwar keine Auflage ist, aber sicher nicht schaden kann. Sämtliche Lokale haben ihre Anzahl Stühle und Tische reduziert und, falls nötig, Trennwände aufgestellt. Die Anzahl Toiletten ist gemäss Abstands-Vorschrift reduziert, die Anzahl Stühle auf maximal vier pro Tisch beschränkt.
* In zehn von elf Beizen sassen nie mehr als vier Personen zusammen; einzig in einem Lokal waren es an einem Tisch einmal fünf – doch zwei seien ohnehin nur «eine halbe Portion », liess man die Journalisten wissen. Immerhin: Rechnen konnte die Runde noch einwandfrei.
* Doch kommen die Gäste überhaupt? Am Freitag waren in zwei Beizen alle Stühle besetzt; weiteren Gästen wurde (richtigerweise) der Einlass charmant und bedauernd, aber konsequent verwehrt. In einem Lokal war der Besuch unterdurchschnittlich, im grossen Rest nicht schlecht. In drei Beizen lag der Altersdurchschnitt unter 40, in drei unter 50, in vier unter 60 und in einem wohl über 60 Jahren. Für die Hälfte der Wirte und Wirtinnen hat sich die Öffnung bisher gelohnt; allerdings nur, da sie aufgrund der reduzierten Platzzahl als Ein-Personen-Betrieb arbeiten können.
* Zwei Frauen betraten das Lokal und setzten sich bewusst statt an einen Vierer- an einen Zweiertisch. «Falls später noch eine Vierergruppe kommt …», lassen sie die Wirtin wissen. Die Damen kennen nicht nur die neuen Vorschriften; sie sind auch rücksichtsvoll.
* Probleme mit den Gästen gabs bisher kaum. Die Regeln sind bekannt und werden grösstenteils beachtet. Die Wirte loben das korrekte Verhalten und greifen ein, wenn es nötig ist. Allerdings nicht mit Überzeugung: «Ich will Gastgeberin sein, und nicht Polizistin. » Doch Lust auf eine Busse hat auch wieder niemand.
* Das nächtliche Expeditionsteam des Einsiedler Anzeigers testete in elf Lokal auch elf verschiedene Desinfektionsmittel.
Aber nur einmal kam es kurz in Versuchung, einen Schluck davon zu trinken: Dieses eine Mittel beruht hundertprozentig auf einer Alkoholbasis. Doch bevor man auch nur die Hände abschlecken konnte, hatte es sich bereits superschnell verflüchtigt.
* «Ich bin fast versauert – Trinken kann ich auch zu Hause. In die Beiz gehe ich zum Diskutieren – Ich habe einfach Lust, wieder einmal andere Menschen zu sehen – Ich habe nun genug Geld eingespart – Ich komme auch aus Solidarität mit den Wirten – Ich muss endlich wieder einmal einen feinen Kaffee haben»: Die Gründe sind verschieden, weshalb die Einsiedler die Beizen wieder aufsuchen. Allen gemein ist die Wiedersehensfreude, der gesellige, soziale Aspekt. «Wochenlang war das Dorf tot. Jetzt redet man wieder miteinander.» * Soll einer sagen, die Gäste würden die verordneten Massnahmen nicht mittragen: Als das EA-Expeditionsteam bei der Befragung einer Tischrunde zu nahe kam, hatte einer umgehend ein Metermass in der Hand.
Da wusste man sofort wieder, wo man stand, respektive stehen müsste.
* Angst vor einer Corona-Ansteckung hat von den befragten Gästen niemand. Mit Abstand in einer Beiz zu sitzen unterscheide sich nicht vom Arbeitsplatz oder vom Einkaufen: «Irgendwann lässt sich das Näherkommen einfach nicht vermeiden.» Dennoch werden die neuen Vorschriften mehrheitlich für gut befunden. Mit einer Ausnahme: Dass um 24 Uhr Schluss sein soll (und am Freitag auch war) leuchtet niemandem ein.
* Eine Bar wirbt schon länger mit Corona-Bier.
Auf Nachfrage beschied das Personal, dass der Absatz vor dem Ausbruch der Pandemie überdurchschnittlich hoch gewesen war, jetzt aber ziemlich eingebrochen sei.
Auch eine Art von Selbstschutz … * An zwei Orten erhielt der Einsiedler Anzeiger keinen Einlass, da sämtliche Sitzplätze belegt waren. Der (nicht ganz ernst gemeinte) Vorschlag, jene vor die Türe zu stellen, welche bereits am Längsten drinsitzen, stiess bei den Gastgebern allerdings auf kein Gehör. Wer vor der Tür blieb, war einzig das Expeditionsteam … Epilog Die Stimmung am Freitagabend blieb all die Stunden hindurch entspannt und friedlich. Abstandsregeln, Vierertische, Glaswände, Desinfektionsmittel … die äusseren Umstände lassen so etwas wie eine gemeinsame Atmosphäre entstehen. Alle sind miteinander durch das eine Thema unsichtbar verwoben. Selbst jene Gäste, welche «genug von Corona » haben, greifen es ungefragt auf und werden so Teil einer umfassenden Gemeinschaft. Aller Abschrankungen und Einschränkungen zum Trotz: Noch selten wurde in den Beizen so viel miteinander gesprochen, über alle Tische hinweg. Und kaum einmal war die gegenseitige Rücksichtnahme höher als in diesen Tagen. Das könnte eigentlich so bleiben.