Zweites Semester gestrichen – Stiftsschüler sind enttäuscht
Einsiedler Maturanden wollen keine Abschlussprüfung ablegen. Die Stiftsschüler sind entsetzt, dass der Schwyzer Erziehungsrat das zweite Semester streicht: «Unzählige Arbeitsstunden von Schülern und Lehrern werden kurz vor der Matura zunichte gemacht», sagt Nicolas Gubser, Sprachrohr der protestierenden Maturanden.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Trotz Corona-Pandemie sollen in zwei Wochen über 400 Maturanden im Kanton Schwyz ihre schriftlichen Prüfungen ablegen. Mit einem Protestschreiben an den Regierungsrat Michael Stähli wehren sich 73 Prozent der Betroffenen gegen die Durchführung der Maturaprüfung. Das Schreiben hat Nicolas Gubser verfasst: Der 18-jährige Stiftsschüler aus Bäch nimmt Stellung zur Antwort von Michael Stähli, Vorsteher des Schwyzer Bildungsdepartements und Präsident des Erziehungsrats. Sind Sie überrascht worden, dass so viele Einsiedler Stiftsschüler das Protestschreiben unterzeichnet haben? Von 49 Maturanden in Einsiedeln haben sich 35 unserem Protest angeschlossen. Dass es so viele sind, überrascht mich nicht: Es leuchtet den meisten ein, dass unter diesen Umständen eine Maturaprüfung nicht praktikabel ist und dass es unsinnig ist, den Schülern ohne Abschlussprüfung die Maturität zu verwehren. Wie kommt die Antwort des Regierungsrats Michael Stähli bei
Ihnen an?
Wir sind nicht erfreut über die Antwort: Statt zu einer Erleichterung kommt es nun zu einer schweren Verschlechterung der Situation, keine «Erleichterung». Wir haben Gleichbehandlung gefordert und werden nun mit der Streichung des zweiten Semesters bestraft: Unzählige Arbeitsstunden von Schülern und Lehrern werden kurz vor der Matura zunichtegemacht. All die Prüfungen, die ja zum Grossteil noch vor dem Lockdown gemacht worden sind, zählen nicht mehr. Eine verständliche Begründung seitens des Erziehungsrats für diese unsinnige Massnahme fehlt. Ausserdem hilft diese Regelung nicht, wie angetönt, den schulisch Schwächeren.
Der Erziehungsrat begründet die Streichung des zweiten Semesters damit, dass wegen des Lockdown keine regulären Prüfungen möglich seien. Naturgemäss gibt es keine Aufsicht zu Hause, wenn dort Prüfungen im Fernunterricht abgehalten werden. Nichtsdestotrotz sind diese Prüfungen statthaft, wenn sie in Selbstverantwortung durchgeführt werden. Abgesehen davon hätte es Schwyz gleich machen können wie St. Gallen oder Luzern, wo es an den Gymnasien eine Jahrespromotion gibt, die für faire Verhältnisse sorgt: Massgebend für die Promotion ist in diesen Kantonen das Zeugnis am Ende des Schuljahres. Wir hätten uns eine Lösung gewünscht, in der die Vornoten zwei Drittel und die Prüfungen ein Drittel gezählt werden würden. Was haben Sie erwartet, wie Michael Stähli auf Ihr Protestschreiben reagieren wird? Wir haben uns zumindest erhofft, dass der Erziehungsrat auf seinen Beschluss zurückkommt und die Maturaprüfung absagt. In anderen Kantonen ist der Schülerprotest auf fruchtbaren Boden gefallen: Als Folge davon wurden die Abschlussprüfungen ersatzlos gestrichen. Wieso soll im Kanton Schwyz nicht dasselbe möglich sein? Es kann nicht sein, dass die schriftliche Maturaprüfung in dieser aussergewöhnlichen Zeit als Leistungsnachweis gewertet wird. Es ist uns in diesem Sinne auch kein «emotionales Bedürfnis», wie es in diversen Medien heisst. Wie kommt sein Wort («lucundi acti labores – erfreulich sind geleistete Anstrengungen») bei Ihnen an? Überaus schlecht, weil dieses Votum das Ganze vollends ins Absurde führt: Es werden ja jetzt just die geleisteten Anstrengungen und Prüfungen des laufenden Semesters zunichtegemacht. Das sorgt übrigens auch bei den Lehrern für viel Irritation und Bestürzung: Sie sind genauso wie die Schüler aufgebracht über die Streichung des zweiten Semesters.
Müsste Ihrer Meinung nach die Maturaprüfung einheitlich auf Bundesebene statt föderalistisch organisiert werden? Nein, die Matura sollte durchaus in der Bildungshoheit der Kantone bleiben. Allerdings führt nun ein Flickenteppich im Land zur unseligen Entwicklung, dass Schüler mit identischen Vornoten in verschiedenen Kantonen unterschiedliche Maturitätsentscheide erhalten können. Hier sollte eine gewisse Zentralisierung für eine Gleichbehandlung der Maturanden in den Kantonen während dieser aussergewöhnlichen Situation sorgen.
Fehlt Schülern eine nicht stattfindende Maturaprüfung später im Leben? Kann die Maturaprüfung einen wichtigen Entwicklungsschritt auslösen, zur Reifung beitragen?
Nein, ich glaube nicht, dass die Maturaprüfung einen wichtigen Entwicklungsschritt auslösen und explizit zur Reifung der Schüler beitragen kann. Maturanden sind ohne Abschlussprüfung keineswegs schlecht gerüstet für ein nachfolgendes Studium an der Uni. Denn die Schüler haben ja bereits vor der Matura unzählige Prüfungen geschrieben und hierbei Erfahrungen sammeln können. Wieso werfen Sie dem Schwyzer Erziehungsrat ein «fehlgeleitetes Bildungsverständnis» vor? Weil er stur an der Maturaprüfung festhält, obwohl dies unnötig wäre: Unsere Kompetenzen wurden ja bereits in den letzten vier beziehungsweise sechs Jahren ausreichend unter Beweis gestellt. Überdies ist die Lernfähigkeit der Maturanden nicht überprüfbar: Die Lernfähigkeit ist in Zeiten von Homeschooling nicht gleich: Sei es wegen mangelnder Technik oder schwierigen Familienverhältnissen. Der Fernunterricht schafft ungleiche Bedingungen für die Maturanden und verzerrt deren Chancen, die Abschlussprüfung zu bestehen. Dies trägt zu einem weiteren Verlust an Fairness bei. Rechnen Sie mit einer Flut von Rekursen, falls viele Maturanden durch die Abschlussprüfung fallen?
In Anbetracht der aussergewöhnlichen Durchführung der schriftlichen Matura scheint es unmöglich, dass bei Nichtbestehen der Prüfung kein fundierter, berechtigter Rekurs eingelegt werden wird. Es ist wenig bis nicht praktikabel, unter diesen Umständen Schülern die Maturität zu verwehren. Daraus folgt, dass Prüfungen nicht nötig sind. Auch möchten wir uns nicht auf das Wort von externen Experten verlassen, die Prüfung «freundlich» zu korrigieren.
Wie gross ist die Gefahr, dass sich Maturanden an der Abschlussprüfung mit dem Coronavirus anstecken? Einerseits gibt es Schüler, die Risikopatienten sind. Andere haben Familienmitglieder mit erhöhtem Risiko. Diese Schüler fühlen sich nicht wohl bei einer Prüfung mit einer so grossen Anzahl an potenziellen Virenverbreitern, die sie oder ihre Angehörigen das Leben kosten könnten. Zudem findet die Prüfung ja in einem Trakt des Klosters statt, das mit den Mönchen eine grosse Zahl an Hochrisikopatienten aufweist. Hierbei erinnere ich an die Situation des zur Einsiedler Abtei gehörenden Klosters Fahr, in dem fünf Nonnen mit dem Coronavirus angesteckt wurden. Sind nun weitere Schritte von Stiftsschülern geplant nach der ablehnenden Antwort des Regierungsrats?
Wir werden uns nun einmal fürs Erste beraten. Gerne möchten wir das Gespräch mit Regierungsrat Michael Stähli suchen. Leider läuft uns die Zeit davon: Denn bereits in zehn Tagen geht es los mit der Maturaprüfung. Kaum zielführend ist es, die Abschlussprüfung zu boykottieren. Eher wäre vorstellbar, die Maturaprüfung nur unter Protest anzutreten. Wobei sich hier die Frage stellen würde, was das genau bedeuten könnte und was die Folgen davon wären.
Das Protestschreiben der Maturanden hat Nicolas Gubser verfasst: Der 18-jährige Stiftsschüler aus Bäch nimmt Stellung zur Antwort von Michael Stähli, Vorsteher des Schwyzer Bildungsdepartements und Präsident des Erziehungsrats.
Foto: zvg