Am Anfang war eine Frau
Lyn Tec AG bietet «Haute Couture in Stahl und Metall» an – der Fachbetrieb im Klosterdorf feiert sein 175-Jahr-Jubiläum
Vor 175 Jahren beginnt die Geschichte eines Unternehmens, aus dem die heutige Lyn Tec AG hervorgegangen ist. 1845 gründet Gertrud Lienert einen Betrieb, der Geräte für den Bau, die Landwirtschaft und den Haushalt in Eisen und Holz produziert. Geführt wird das Unternehmen noch immer durch die Familie Lienert – unterdessen von der sechsten Generation.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Es herrschen überaus unruhige Zeiten im Jahr 1845: Katholiken und Reformierte liegen sich in den Haaren, der Sonderbundskrieg steht kurz vor dem Ausbruch – die Gründung des Bundesstaates ist angesagt.
Just in dieser Zeit nimmt eine mutige Frau im Klosterdorf das Zepter selbst in die Hand und schreibt Geschichte, indem sie ein Unternehmen gründet, das 175 Jahre später noch immer Bestand haben soll.
Die verwitwete Meinrada Gertrud Lienert-Lindauer beginnt im Jahr 1845 mit der Herstellung von Baubeschlägen und landwirtschaftlichen Hilfsgeräten. Die Produkte werden in grossen Mengen in der Deutschschweiz, im Tessin und in Graubünden abgesetzt.
Hinzu kommen Abdeckungen für Holzherde, Ringe für Pfannen, Kaminschieber und Kamintürchen. Nach und nach werden weitere Produkte für das Bauwesen und das tägliche Leben in das Programm aufgenommen.
Gertrud Lienert ist eine überaus umtriebige Frau und engagiert sich auch im Gastgewerbe und in der Hotellerie. So kauft sie zirka im Jahr 1860 im Oberdorf in der Nähe des Klosterplatzes das Hotel Paradis mit angegliederter Werkstatt. Das Haus ist durch Vererbung in Adam und Eva, Sohn Franz Xaver Lienert- Gyr und Paradis Konrad Lienert (Landschreiber) umgetauft worden.
Die Klostermühle gekauft
Im Jahr 1865 übernimmt ihr Sohn Franz Xaver Lienert-Gyr das Geschäft: Dieser behält das bisherige Programm bei, erweitert die Produktion und fügt neu mechanische Arbeiten hinzu. Er profitiert davon, dass dank eines engeren Eisenbahnnetzes Produkte den wichtigsten Bahnstrecken entlang bis ins Bernbiet, nach Zürich, Winterthur, Chur und die Zentralschweiz ausgeliefert werden können.
Ein Meilenstein erfolgt, als Franz Lienert 1878 dem Kloster Einsiedeln die aus dem 13. Jahrhundert stammende Klostermühle mit angegliederter Säge und Wasserkraft abkauft. Im Jahr 1904/05 wird eine Drahtfabrikation und Stiften-Herstellung mit eigener Härterei in Betracht gezogen, dann aber nicht realisiert. Es erfolgt die Patentierung und Herstellung eines Kettenschnellverschlusses für das Anbinden von Vieh.
Im Jahr 1906 übernimmt Benedikt Lienert-Stürm das Unternehmen: Dieser nimmt neben der Mühle einen Neubau nach den Kenntnissen der damaligen Produktion an die Hand und führt sehr früh Schweisstechnik ein.
Ergonomischer Schülerstuhl
Zusätzlich zum Schnellverschluss für Viehketten produziert Benedikt Lienert Knöpfe und Griffe für Möbel und Kistenbeschläge für Industrie und Armee. Hinzu kommen Konsolen für die Familie Gebert, heute Geberit. Damit beginnt die Geburtsstunde der Zulieferung. Während des Zweiten Weltkrieges werden Holzvergaser produziert.
Benedikt Franz Gebhard Lienert- Müller übernimmt 1945 den Betrieb, aus Wasserkraft wurde elektrische Energie, die für lange Jahre für den Eigenverbrauch produziert wurde. In dieser Zeit werden zweckmässige, für die Produktion erforderliche Maschinen und Apparate angeschafft, meistens robuste Occasionen.
Metallbau und Kunstschmieden werden eingeführt als Diversifizierung. Zwischen 1948 und 1955 werden Skilifte mit einem Patent für Bügelgehänge mit Bremse in beiden Endpositionen gebaut. Ab dem Jahr 1950 werden Schulmöbel, die heute noch hergestellt werden, und Saalbestuhlungen produziert: Ein erster ergonomischer Schülerstuhl wird angefertigt, ebenso ein patentierter Klapptischfuss. Auf die Industrie ausgerichtet
Anfang der 1960er-Jahre wird die Säge stillgelegt und für die Herstellung von Metallwaren aus- und umgebaut.
Bis zum Jahr 1975 profitiert das Unternehmen von einer sehr guten konjunkturellen Lage. Dann verfinstern sich die Wolken: 1975 kommt es zum Ölpreisschock und einer anschliessenden wirtschaftlichen Abkühlung. Es folgt ab 1976 eine erste Rezession, und in den weiteren Jahren wird die politische und wirtschaftliche Lage immer instabiler.
Im Jahr 1979 wird Urs Louis Benedikt Lienert Geschäftsführer des Betriebes: Unter seiner Leitung wird das Rohrbiegen ausgebaut und entsprechende moderne Maschinen angeschafft.
Er fokussierte sich auf Zulieferung, Metallbau und Schulmöbel und gibt die Beschläge-Fabrikation auf: «Wir spezialisierten uns auf den Bereich Blech- und Rohrbearbeitung und versuchten, uns dem Markt anzupassen.» Industrialisiertes Handwerk steht fortan im Fokus. Ab dem Jahr 1984 schweisst ein Roboter. Dies war der Anfang einer sukzessiven Modernisierung der Produktion. Damit hielt die Digitalisierung Einzug: 1987 und 1999 eine CNC Stanz- und Nibbelmaschine, 1992 eine CNC Abkantpresse.
Aus dem Grossserienmarkt entwickelt sich vermehrt ein Mittel- und Kleinserienmarkt. «Fortan war es angebracht, rasch und flexibel und termingetreu zu handeln und die Termine einzuhalten. Wir richteten uns konsequent auf die Industrie aus», konstatiert Urs Lienert: «Die 80er-Jahre waren sehr streng. Wir hatten damals gute Jahre, obwohl die Preise immer mehr unter Druck geraten sind.» Auf dieser Erkenntnis wurde im Zusammenarbeit mit der damaligen CIM-Organisation (vom Bund für KMU) in den Jahren 1988 bis 1994 die immer noch gültige Strategie und die Organisation aufgebaut. Die logische Folge war die Zertifizierung nach ISO 9001 im Jahr 1996. Das Logo «Haut Couture in Stahl und Metall» ist das Bekenntnis zu einer «Massschneiderei» in Qualität und Leistung.
Gesellschaftlicher Wandel «2001 2002 haben wir eine neue Produktionshalle mit Büros für eine moderne Produktion gebaut », sagt Lienert: Eine erste Laserschneidmaschine wird angeschafft und 2006 durch eine grosse, flexible und leistungsfähige Lasermaschine ersetzt. «Gleichzeitig haben wir das Abkanten durch eine neue CNC-Abkantpresse ergänzt», erzählt Lienert.
Ab 2015 wird die sechste Generation in den Verwaltungsrat aufgenommen und Schritt für Schritt in die operativen Geschäfte eingeführt: Rafael Lienert führt seit dem Jahr 2019 die Geschäfte offiziell federführend. «Eine Herausforderung, die nicht zu unterschätzen ist, ist doch der gesellschaftliche Wandel offensichtlich», sagt Urs Lienert.
In Zukunft gewinne neben der Digitalisierung die Kundennähe noch mehr an Bedeutung, hält Rafael Lienert fest: Die Produkte, die sich im Hochpreis-Land Schweiz mit einer befriedigenden Wertschöpfung nur noch in geringen Losgrössen herstellen liessen oder eine hoch individualisierte Kundschaft ansprechen würden, verlangten von den Herstellern eine flexible Produktionsorganisation bei hoher Technologisierung. Für lokalen Markt produzieren
«Schon jetzt lassen deshalb die grossen, auf dem internationalen Markt tätigen Unternehmen vermehrt montagefertige Komponenten oder ganze Produkte von Unterlieferanten herstellen, da sie sich auf die Entwicklung und den Vertrieb ihrer Produkte konzentrieren», führt der 40-jährige Geschäftsführer aus: «Was trotzdem heisst, dass wir für den lokalen Markt produzieren. So sind wir in der Blech- und Rohrbearbeitung lokal gut verankert, jedoch kämpfen wir mit immer tieferen Preisen.» «Wir sind als Hersteller von Metallwaren immerzu ein Exot in Einsiedeln gewesen», beobachtet Urs Lienert: «Dass wir es geschafft haben, das Unternehmen 175 Jahre lang im Besitz der Familie zu halten, verdankt sich unserem Herzblut, Glück und Können.» Fast schon ein Wunder sei es, dass es Lyn Tec geschafft habe, der Globalisierung Paroli zu bieten, die zu einer Deindustrialisierung in der Schweiz geführt und so manches wegrationalisiert habe.
Die Chancen stehen gut, dass auch in Zukunft die Lyn Tec AG mit ihrer «Massarbeit in Stahl und Metall » – made in Einsiedeln – Bestand hat. Zumindest stehen schon zwei Enkelkinder bereit – allerdings derzeit noch im Kindergartenalter – dereinst das Unternehmen in der siebten Generation eventuell weiterzuführen. «Und jetzt gestalten wir die Zukunft», sagt Urs Lienert zum Abschluss des Gesprächs.
«Die 80er-Jahre waren sehr streng. Die Preise sind immer mehr unter Druck geraten.»
Urs Lienert
«Digitalisierung und Kundennähe gewinnen in Zukunft noch mehr an Bedeutung.»
Rafael Lienert
«Wir sind als Hersteller von Metallwaren immer ein Exot in Einsiedeln gewesen.»
Urs Lienert
Von der fünften zur sechsten Generation der Familie Lienert: Rafael Lienert ist Geschäftsführer der Lyn Tec AG (links). Sein Vater Urs Lienert hat das Unternehmen an der Klostermühlestrasse 16 in Einsiedeln von 1979 bis 2019 geführt.
Foto: Lukas Schumacher
Gertrud Lienert gründet 1845 im Klosterdorf einen Betrieb, der 175 Jahre später noch immer von der Familie Lienert geführt wird. Foto: zvg