Das Monatsgespräch im Februar
Franziska Keller trifft die bald 104-jährige Lina Kälin-Brunner im Alters- und Pflegezentrum Gerbe
Jahrgang: 1916 Bürgerort: Flawil (SG) Geburtsort: Freienstein (Züribiet) Wohnort: Einsiedeln Ich glaube nicht an Zufälle … Für das Februargespräch wünschte ich mir eine ältere Dame aus dem Alters- und Pflegezentrum Gerbe. Und fast unglaublich aber wahr, erreicht mich am Dienstagnachmittag ein überraschendes Whatsapp aus der EA-Redaktion. Ob ich ganz kurzfristig am Mittwoch um halb fünf bei einer älteren Dame im Zentrum Gerbe vorbei gehen könne. Natürlich hat es einen bestimmten Grund. Mein Herz jubelt und dieser Termin muss einfach noch reinpassen.
Und sie war berührend, ergreifend, einzigartig: diese eine Stunde bei Lina Kälin-Brunner. Schön frisiert und hübsch angezogen erwartet sie mich im Zimmer 603. Sie sei ein wenig nervös, sagt man mir auf der Abteilung … Ich freue mich sehr, Sie kennenlernen zu dürfen, Frau Kälin. Darf ich raten: Sie waren heute beim Coiffeur?
(Lächelt) Ja.
Ich weiss warum, Sie feiern bald Geburtstag …
… am Sonntag werde ich 104 Jahre alt. (Ich beginne zu rechnen: Jahrgang 1916. Was für ein Geschenk, dass ich Lina Kälin heute treffen darf – danke EA.) Machen Sie ein Fest?
Ich mache nichts «Grosses», aber ich habe sechs Gäste eingeladen: meine Nichten und Neffen. Heute Morgen war der Koch bei mir und ich durfte mein Geburtstagsmenü wünschen. Ich erinnere mich jetzt aber nicht mehr genau – ich glaub, für mich einen Gemüseteller und für meine Gäste etwas mit Fleisch. Haben Sie einen Wunsch zu Ihrem Geburtstag?
Dass meine Gäste «guet zwäg» sind.
Sind Sie selber auch «guet zwäg»?
In meinem Alter bin ich sehr zufrieden. Ich kann durch meinen Parkinson nicht mehr laufen und meine Augen und Ohren geben langsam nach, aber mit dem Kopf bin ich noch ganz zufrieden. Empfinden Sie es schön, so alt zu werden? Ja und nein. Es ist schön, alt zu werden. Aber die Beschwerden, die mit dem Alter kommen, sind nicht so schön. Dass mein Gehör nachlässt, behindert mich am meisten. Bekommen Sie manchmal Besuch?
Ja, von zwei Freundinnen, die einen Stock unter mir leben und mit denen ich früher in der Klostermühlematte gewohnt habe. Wenn man nicht hier geboren ist, ist es nicht dasselbe und ich habe darum auch keinen grossen Bekanntenkreis vom Dorf. Man muss hier geboren sein, dass man angenommen wird.
Dann sind Sie nicht von hier?
Aufgewachsen bin ich an verschiedenen Orten. Mit 18 Jahren habe ich nach der Haushaltsschule am Institut in Fribourg unseren Haushalt mit vier Geschwistern (12 bis 15 Jahre jünger) übernehmen müssen, weil meine Mutter an Polyarthritis erkrankt war. Ich pflegte sie lange und arbeitete nebenbei im Trikotfabrikationsgeschäft meines Vaters in Bütschwil. Deshalb habe ich lange nicht geheiratet, konnte die Familie ja nicht im Stich lassen. Ich habe immer viel Wert auf meine Familie gelegt. Auch nach der Heirat, da war ich dann schon 51 Jahre alt. Warum sind Sie denn nach Einsiedeln gekommen? Ich bin «wäg der Liebi» gekommen, weil mein Mann ein Heimweh-Einsiedler war: der «Alp-Schösi». Er liess sich als Direktor der Securitas frühpensionieren, damit wir hierherziehen konnten. Ich war zeitlebens dann «Frau Alp-Schösi». Und wie war es so in Einsiedeln?
Ich habe das Langlaufen gemocht, das Skifahren weniger. Als mein Mann noch lebte, gingen wir auch gerne ins Dorf und an die Fasnacht. Als er dann vor 20 Jahren gestorben ist, bin ich alleine nicht mehr ausgegangen.
Waren Sie auf Reisen?
Solange mein Mann lebte, haben wir schon Reisen unternommen. Ich wäre auch gerne einmal nach Amerika geflogen und hätte die Cousine meines Mannes besucht, aber leider war er nie «über den grossen Teich» zu bewegen. Wir haben dafür Länder in Europa gesehen: Berlin etwa oder Spanien (Mallorca) und waren auf Kreuzfahrten. Sie haben gewiss sehr viel erlebt in Ihrem langen Leben. Ich kann mich sogar an den Ersten Weltkrieg erinnern. Damals war ich erst 2 Jahre alt, aber ich sehe meinen Vater heute noch in seiner alten Uniform, wie er sich verabschiedete, weil er an die Grenze musste.
Im Zweiten Weltkrieg war ich dann schon etwa 28 Jahre alt und nahm zweimal kleine Franzosenbuben auf. Man brachte ganze Züge voll mit Kindern, die ihre Eltern im Krieg verloren hatten, zu uns. Man konnte sich melden, ob man ein Mädchen oder einen Jungen wolle. Und weil ich vom Institut her gut Französisch sprechen konnte, half ich ihnen gerne. Das muss eine schlimme Zeit gewesen sein. Wenn die Flugzeuge am Himmel flogen und der Alarm losging, war das schon ganz schlimm – ich hatte oft Angst. Einmal hiess es: «Jetzt kommen die Deutschen!» und wir mussten uns mit dem Allernötigsten im Rucksack bereitstellen. Das war furchtbar. Erinnern Sie sich an grosse technische Veränderungen? Wir haben immer einfach und gut gelebt. Und dann kauften wir uns eine der ersten Waschmaschinen, das war schon schön. Ich habe später nie ein Handy gewollt. Aber heute reut es mich, dass ich eine solche Abneigung hatte. Der Kontakt wäre mit einem Handy viel einfacher gewesen. Jetzt geht es leider nicht mehr, ich zittere viel zu stark. Und wie verbringen Sie heute so den Tag? «Ich mache nöd viel.» Heute las ich in einer Zeitschrift einen Artikel über eine 100-jährige Frau – da fühlte ich mich verbunden. Ich habe mein Leben lang immer gerne gelesen. Meine Lieblingsbücher sind «Drei altmodische Liebesgeschichten» und «Das Gesichtlein im Brunnen» von Meinrad Lienert (aus der Büchergilde Gutenberg, in alter Fraktur, Jahrgang 1943) und «Der Wolkenbaum » von Silja Walter. Und was war das Schönste in Ihrem Leben? Meine Jugend war das Schönste, da hatte ich noch keine Sorgen. Erst als meine Mutter krank wurde, merkte ich, dass das Leben nicht immer nur einfach ist.
Von Franziska Keller
Foto: Franziska Keller