Tattoos – fast ganz ohne Tabus
Interview mit der Einsiedlerin Lorena Bertulli – die Tätowierungen liebt und von diesen auch lebt
Früher hatten nur Knastbrüder, Seeleute, Zuhälter und Rocker Tattoos. Heutzutage ist quasi jeder zweite junge Schweizer tätowiert. Tattoos sind längst kein Tabu mehr. Die Einsiedlerin Lorena Bertulli (30) erklärt, warum das so ist – und warum es trotzdem noch gewisse Tabus gibt.
WOLFGANG HOLZ
Frau Bertulli, warum haben Sie Tätowierungen so gerne?
Meine Liebe zu Tattoos hat angefangen, als ich elf Jahre alt war. Damals habe ich meine Mutter begleitet, die sich ihr erstes Tattoo stechen liess. Ich durfte zuschauen. Und da hats mich gepackt. Ich wusste sofort, das will ich machen und so etwas will ich auch haben.
Warum?
Mein Firmgotti ist schon voll tätowiert gewesen. Und sie hat mich mal mitgenommen auf eine Convention in Zürich. All diese Leute dort, die tätowiert waren, stellten für mich eine Art Familie dar. Es war ein grosser Zusammenhalt unter den Anwesenden, und es war für mich auch spannend, ihren Geschichten zuzuhören, die sie zu jedem ihrer Tattoos zu erzählen hatten. Diese Welt hat mich fasziniert, und ich wollte dazugehören. Das hat mich mega berührt – weil die Tattoos alle einen Hintergrund hatten. Das ist heutzutage nicht mehr unbedingt der Fall, weil Tätowierungen zum Lifestyle geworden sind. Seit wann tragen Sie so viele Tätowierungen – an den Händen, an den Armen, ja sogar am Hals? Das hat schon recht früh angefangen. Ich war schon immer ein bisschen anders. Egal, ob es sich um die Musik drehte, die ich hörte, oder um den Style handelte, den ich trug: Ich war einfach immer anders. Ich habe mir die Tattoos aber nicht machen lassen, um herauszustechen, sondern um mich ein bisschen zu verstecken.
Zu verstecken!? Aber Tattoos machen einen in der Öffentlichkeit doch gerade noch auffälliger?
Das ist richtig. Deshalb trage ich im Sommer beispielsweise auch oft keine kurzen Hosen für gewisse Orte, weil ich immer wieder wegen meiner Tattoos angefeindet werde. Früher war ich einfach die herzige Grosse mit den langen, blonden Haaren. Das wollte ich in meinem Leben ändern. Dabei hat alles, was ich auf der Haut trage, eben eine Geschichte.
Eine Geschichte? Was heisst das konkret? Das heisst, dass die Bilder und die Tattoos, die ich auf meinem Körper trage, mir geholfen haben, besser zu verarbeiten, was ich erlebt habe. Zum Beispiel habe ich ziemlich früh dieses Tattoo von meinem Grossvater stechen lassen ( sagts und schiebt den Pullover am linken Unterarm hoch und zeigt auf einen Mann mit BP-Mütze), der gestorben ist. Er war für mich wie ein Vater, und ich bin mit ihm aufgewachsen. Er arbeitete in der Füchslin-Garage. Ihn kannten viele Menschen. Er war der erste Tankwart in Einsiedeln. Es war ein sehr grosser Verlust für mich, als er gestorben ist. Auf dem Arm hier ist er immer bei mir. So habe ich die Trauer besser verarbeiten können. Für Sie sind also die Tattoos, die Sie tragen, quasi besondere Erinnerungen … Ja, ich sage immer, ich bin wie ein Fotoalbum, das Wichtigste in meinem Leben ist auf meinem Körper abgebildet. Früher waren Tattoos ein Tabu. Dann kamen die sogenannten «Arschgeweihe» auf, die vor allem viele junge Frauen getragen haben. Und heute hat jeder zweite junge Schweizer ein Tattoo. Warum ist das so? Ich denke, das hat viel damit zu tun, dass Tätowierungen längst zum Lifestyle geworden sind. Ich habe von Anfang an gesagt, dass so etwas nicht verschwinden kann – weil Tattoos eben bleiben. So manche lassen sich sicher nur tätowieren, weil es cool ist. Viele junge Leute wollen einfach auch haben, was ihre Stars besonders macht. Wenn jemand beispielsweise Rihanna cool findet, die hinten im Nacken viele Sternli trägt, möchte die Person diese eben auch haben. Ich weiss nicht, wie oft ich solche Sternchen schon tätowiert habe. Viele Männer kommen zu mir, die sich Bilder von Fussballspielern tätowieren lassen wollen. Man sieht inzwischen einfach fast überall Tattoos – andererseits darf es nicht überall gesehen werden.
Tatsächlich. Wo sind denn in der Schweiz Tattoos noch tabu?
Für Banker sind Tattoos beispielsweise ein absolutes No-Go – man darf diese auf keinen Fall sehen. Genauso wenig wie Ohrringe. Es gibt auch Coiffeur-Salons oder Kleider-Boutiquen, wo Tattoos bei Angestellten nicht akzeptiert sind. Dabei sind mittlerweile so viele tätowiert. Sind Tattoos mehr Schmuck oder mehr Identität? Beides. Früher waren Tattoos sicher noch mehr Identität. Heutzutage geht es mehr um den Schmuck. Es kommen Leute zu mir ins Tätowier-Studio, die planen von vorneherein, dass all ihre Tattoos später zusammenpassen. Für mich bedeuten Tattoos hauptsächlich Identität. Jedes Tattoo ist für mich, wie gesagt, eine Story. Aber ist nicht eigentlich nackte Haut das Schönste? Das ist schwierig zum Sagen – ich weiss, was Sie damit meinen ( lacht). Für mich als Tätowiererin gibt es nichts Schöneres als nackte Haut, die ich verschönern kann. Andererseits gefallen mir Menschen, die nicht tätowiert sind, auch sehr gut. Für mich hat Schönheit nichts mit dem Aussehen zu tun, für mich kommt Schönheit von innen – da kann jemand tätowiert sein oder nicht. Welche Körperstellen werden am meisten tätowiert? Arme, Unterarme vor allem und oft die Rippen – ein Ort, wo man Tattoos nicht sofort sehen kann. Für mich persönlich war mein Hals die Stelle, die für mich persönlich am extremsten war. Das war sehr schmerzhaft zu tätowieren – weil der Hals doch ein sehr empfindlicher Körperteil ist. Ich musste dabei mit zurückgelegtem Kopf mehrere Stunden lang liegen, damit die Haut, die am Hals auch noch dünn ist, unter Spannung steht. Jetzt ziert mein Hals ein Bild der Gottesmutter Maria – das war der Kompromiss, den ich mit meiner Grossmutter ausgehandelt habe, weil sie strikt gegen mein Hals-Tatto war. Bei anderen habe ich schon Fusssohlen tätowiert. Und ein Mann wollte einmal einen Rasenmäher direkt über seinen Schamhaaren tätowiert bekommen. Wie schmerzhaft sind Tattoos?
Das ist individuell sehr unterschiedlich. Manche, die zu mir in den Laden kommen, haben mich schon gefragt, warum ich ausgerechnet ein Schild mit dem Wortlaut «It hurts like hell» ( zu deutsch: «Es tut höllisch weh» ) im Schaufenster hängen habe. Ich habe ihnen geantwortet: Weil es der Wahrheit entspricht und tatsächlich schmerzt. Manche lassen sich aus diesem Grund auch erstmal nur kleine Tattoos stechen – um auszuprobieren, ob sie es aushalten. Grundsätzlich muss man sagen, dass Frauen in der Regel weniger schmerzempfindlich sind als Männer. Das ist einfach so. Es gibt inzwischen tendenziell mehr Frauen, die sich bei mir tätowieren lassen. Ich habe auch schon erlebt, dass jemand nach einer längeren Tattoo- Sitzung völlig erschöpft war und beinahe kollabierte, weil er wegen des Schmerzes die ganze Zeit so unter Anspannung gestanden hat.
Uff, das hört sich wirklich streng an! Gibt es denn gewisse Trends an Motiven? Als Motive für Tattoos liegen derzeit fette Outlines aus der «Traditional Old School» im Trend. Aber auch minimalistische Motive wie Wildblumen – die sich gut zum kleinen Schwarzen tragen lassen. Sternenbilder, Planeten, Space Motive sind «in» ebenso wie Watercolours oder sogenannte Fernweh-Tattoos, die Landkarten, Flugzeuge und Koordinaten abbilden. Gibt es Motive, die Sie auf keinen Fall tätowieren würden? Ja. Bilder und Symbole, die zu Gewalt aufrufen und diese verherrlichen. Nazi-Zeichen würde ich auch nie tätowieren. Ich habe schon Kunden gehabt, die sich von mir ein Hakenkreuz stechen lassen wollten. Das habe ich aber immer abgelehnt. Sie wirken als tätowierte Frau, die auch noch als Tätowiererin arbeitet, taff. Wer ist und was macht Lorena Bertulli, wenn Sie nicht an Tattoos denkt? Ich bin ja in Einsiedeln geboren. Ich bin nach wie vor Italienerin und besitze keinen Schweizer Pass – allerdings fühle ich mich nach all den Jahren hier schon mehr als Schweizerin. Ich habe einen Freund, und in meiner Freizeit tanze ich sehr gerne und bin auch als Tanzlehrerin unterwegs. Ausserdem verbringe ich viel Zeit draussen in der Natur und habe Tiere sehr gerne. ( Inserat folgt) «Ich bin wie ein Fotoalbum. Das Wichtigste in meinem Leben ist auf meinem Körper abgebildet.»
Lorena Bertulli, Tätowiererin
Sie hat auf ihrem linken Arm ihre Mutter und ihren Grossvater verewigt: Lorena Bertulli aus Einsiedeln.
Foto: zvg