Ein «Rüti-Schniider» ist Medizin-Nobelpreisträger 2019!
Ein Kälin, selbst wenn er sich Kaelin schreibt, hat irgendwie mit Einsiedeln zu tun. Das ist auch bei einem Nobelpreisträger der Fall.
PATRICK SCHÖNBÄCHLER
Der Nobelpreis für Medizin geht in diesem Jahr an den Engländer Sir Peter J. Ratcliffe und die beiden Amerikaner Gregg L. Semenza und – William G. Kaelin jr. «Ä Chääli. Wer gout där ächt a?», fragt man sich als Einsiedler natürlich sofort. Dass es ein Hiesiger sein muss, ist klar, stammen die Kälins doch als altes Waldleute-Geschlecht alle aus Einsiedeln.
Geehrt wurde William G. Kaelin zusammen mit seinen beiden Kollegen für die Entdeckung molekularer Mechanismen, mit denen Zellen den Sauerstoffgehalt wahrnehmen und sich daran anpassen. Diese Kenntnis helfe bei der Behandlung zahlreicher Krankheiten, so die Jury zur Begründung der Preisvergabe.
1957 in Queens geboren
William George Kaelin wurde 1957 in Queens/New York geboren, ist Onkologe, Professor an der Harvard Medical School und forscht am Dana-Farber Cancer Institute in Boston/Massachusetts. Sein Ur-Ur-Ur-Grossvater war Josef Anton Plazid Kälin (1816–1904), geboren in der Rüti in Euthal. Bekannt ist, dass dieser in jungen Jahren für den Holzhändler J. Baptist Thorner Holz von Studen bis nach Zürich geflösst hatte. 1840 ehelichte er Anna Katharina Kälin (1821– 1897). 1844 wird er als Käufer von 32 Klaftern Genossenland als «Martschenschniider», des «Johann Josefen» (seinem Vater), erwähnt. Der Name seines neuen Hauses in der Rüti in Euthal war «Neurüthe». Den prägenden Übernamen «Rüti-Schniider» erhielt er, weil er als Schneider im hintern Birchli arbeitete. 1870 erwarb er ein weiteres Heimweisen, den «Fluhhof», in der Steinau (1891 abgebrannt). 1885 kam es aus nicht näher bekannten Gründen aber zur betreibungsamtlichen Zwangsvollstreckung seiner diversen Ländereien «Fluhhof», «Knollenweid», «Kleingschwend», «Gschwendle», «Kleinschwendle » und «Moos-Sumpfi« sowie «Grossrieth» (EA 25.4.1885, EA 13.5.1885). Der «Rüti-Schniider» verstarb am 3. November 1904.
1864 ausgewandert – im Alter von 14 Jahren!
Seiner Ehe entsprossen im Zeitraum von 1841 bis 1860 nicht weniger als 13 Kinder, unter diesen Josef August Kälin (1850– 1932). Der Bub wanderte als 14-jähriger 1864 nach Amerika aus! Doch wie kam es dazu?
Seit dem Frühjahr 1864 war in den oberen Räumlichkeiten des Euthaler Schulhauses eine Buchbinderei-Filiale der Gebrüder Benziger untergebracht (EA 18.5.1865). 30 bis 40 Kinder wurden mit Kolorieren, Falzen und Heften beschäftigt und brachten damit einen geringen Verdienst nach Hause (EA 24.6.1865). Über Euthal war damals zu lesen: «Wohl wissend ist Euthal ein ödes, abgelegenes verdienstloses Nest, das sagt uns auch schon sein Name, und mit Recht haben wir schon oft von unsern w.w. Behörden gehört, es sei dies der ärmste Viertel im Bezirk.» Zum einen war den Euthalern ein Verdienst willkommen, zum anderen war man sich aber auch bewusst, dass die Gebrüder Benziger auch eigennützige Motive hatten, denn die Löhne im hinteren Sihltal waren tiefer als diejenigen im Dorf. In New York für die Benziger Brothers gearbeitet Sodann rekrutierte die Firma ihre Arbeiter für die amerikanischen Filialen in Cincinnati und New York regelmässig in der Region Einsiedeln. Zum Teil fanden eigentliche Rekrutierungsverfahren statt, bei denen junge Männer zwischen 13 und 17 Jahren im Schreiben, Lesen und Rechnen geprüft wurden. Die Geeigneten – dåie meisten aus Euthal und Trachslau – wurden nach Amerika spediert. «Die erstern aus Euthal sind meistens nicht schlecht geschult, hatten immer gute Lehrer & sind ziemlich geweckt & werden ohne Zweifel sehr anhänglich werden. », schrieb Nikolaus Benziger im Sommer 1864 nach New York. Eltern erhielten 100 Franken
Aus Familienaufzeichnungen kann entnommen werden, dass Josef August Kälin sich unter diesen Geeigneten befand und tatsächlich für die Benziger Brothers in New York gearbeitet hat. Den Eltern waren 100 Franken bezahlt worden. Die Benziger Brothers hatten im selben Jahr auch ein kleines Fabrikationsgeschäft in Kirchenornamenten, Monstranzen, Messkelchen und Ziborien in New York übernommen und fingen von da an, auch auf eigene Rechnung zu fabrizieren.
Keine rosigen Lebensverhältnisse in Euthal In Einsiedeln zeigte sich um 1864/65 ohnehin wieder eine richtige Auswanderungslust (EA 5.3.1864). Schlechte Kartoffelernten, eine geld- und verdienstlose Zeit und grosse Familien förderten diese und die Genossamen, die nicht allen ihren Genossenbürgern auf Dauer einen Nutzen gewähren konnten, unterstützten Auswanderungswillige mit Beiträgen (EA 24.6.1865). Allein zwischen Mai und Oktober 1865 organisierte der Einsiedler Auswanderungsagent Franz Theiler für sechs Gruppen von Einsiedler Auswanderern die Überfahrt nach New York via Paris und Le Havre.
Dass die Lebensverhältnisse in Euthal damals wirklich nicht rosig waren, belegt die Tatsache, dass nur schon am 13. August 1865 14 Euthalerinnen und Euthaler ihrer Heimat den Rücken kehrten (EA 5.8.1865). Kälin holte auch zwei Brüder nach Amerika Josef August Kälin muss gut gearbeitet haben, konnte Ersparnisse bilden und holte auch seine beiden jüngeren Brüder Heinrich/ Henry (1855–1931) und Johann Sigismund/John (1858– 1933) nach Amerika. Diesen folgte später auch Neffe Gottfried/ Fred (1875–1955). 1874 heiratete Josef August Kälin in New York Mary Sammon (1847– 1924). 1880 erwarben sie eine Farm auf Long Island/Roanoke und handelten mit Milch und Kartoffeln. Ihrer Ehe entstammten sechs Kinder. Als Josef August Kälin 1932 starb, hinterliess er nebst seinen verbliebenen vier Kindern, 33 Enkel und sieben Urenkel sowie einen Bruder.
Sein jüngstes Kind, Daniel Augustin Kaelin (1874–1940), war gelernter Schreiner und hatte zwischenzeitlich die Farm übernommen. Verheiratet war dieser mit Katherine Theresa Roche (1876–1936) und der Ehe entsprossen zwischen 1897 und 1915 neun Kinder. Eines von diesen war William Christopher Kaelin (1905–1982), der Grossvater des frischgebackenen Nobelpreisträgers. Aus dessen Verbindung mit Kathryn Mary Graf (1906–1998) entstammte Vater William George «Bill» Kaelin (1929–2011). Dieser wiederum war verheiratet mit Nancy Horn. Deren Sohn, Nobelpreisträger William George Kaelin (geboren 1957), ist das älteste ihrer fünf Kinder. Seine Ehefrau, Carolyn Mary Scerbo (1961–2015), war ebenfalls als Onkologin tätig. Ihre zwei Kinder, Kathryn Grace Kaelin und William Kaelin, bilden eine weitere Generation von «Rüti-Schniiders».
Je zur Hälfte in den USA und in der Schweiz Die Nachkommen des «Rüti- Schniiders» Joseph Anton Plazid Kälin (1816–1904) sind heute schätzungsweise je zur Hälfte in Amerika, hauptsächlich in New York, und in der Schweiz, vorab in Einsiedeln, beheimatet. Ein Enkel des «Rüti-Schniiders », Anton Kälin (1886–1929, abstammend von Joseph Anton [1843–1900]), war von 1920 bis 1929 Landschreiber des Bezirks Einsiedeln. Dessen Sohn Felix wiederum war der bekannte Pater Konrad Kälin (1926–2007), Mitglied der Einsiedler Klostergemeinschaft. Bekannt ist auch ein weiterer Sohn von Joseph Anton, nämlich Prof. Alois Kälin (1891–1949), erster Laiendarsteller als «Meister» 1930– 1937 im Einsiedler Welttheater.
Verwandte des Nobelpreisträgers selber finden sich hierzulande noch als Cousins in dritter Generation (beispielsweise «Linden»-Hugo Balthasar Kälin, 1968–, und Schwester Susanna Kälin Waldvogel, 1961–, stammen von Josef Augusts Bruder Joseph Anton [1843–1900] ab) oder vierter Generation (beispielsweise der Autor, 1968–, stammt mütterlicherseits von Josef Augusts Bruder Bruno Anton [1845–1914] ab).
Quellen: Einsiedler Anzeiger; Stammbaumaufzeichnungen; Familienaufzeichnungen aus der Sammlung von Hugo Kälin; HEINZ NAU-ER, Fromme Industrie – Der Benziger Verlag Einsiedeln 1750–1970, Baden 2017; KARL J. BENZIGER, Geschichte der Familie Benziger von Einsiedeln, New York 1923; MARLIS SCHULER-KÄLIN, Das Sihl-Hochtal, Bände I-IV, 2004– 2013.
Josef August Kälin (1850–1932), der Ur-Urgrossvater des aktuellen Nobelpreisträgers. Fotos: Sammlung Patrick Schönbächler
Das Grave Memorial von Josef August Kaelin befindet sich auf dem Saint John the Evangelist Cemetry Riverhead, Suffolk County, New York.