Corona scheidet die Geister – doch die Normalität wird zurückkehren
VICTOR KÄLIN
Corona ist nicht nur ein Virus. Sondern ebenso eine Überforderung. Auch bei bestem Willen lässt es irgendwann jeden ratlos zurück. Es ist für alle ungewohnt, dass auch nach Monaten nicht jede Frage zweifelsfrei beantwortet werden kann. Das verunsichert, was mehr als nur verständlich ist. Wir sind es uns gewohnt, zu wissen. Alles andere öffnet Mutmassungen, Behauptungen und Verschwörungstheorien Tür und Tor.
* Dass sich Wahrheiten und Ansichten im öffentlichen Raum aber kaum mehr unterscheiden lassen, ist mehr dem Social-Media-Zeitalter geschuldet als der Pandemie selbst. Corona ist kein Einzelfall: Behauptungen dominierten zum Beispiel auch die US-Wahlen. Nur wer laut ist, hat noch lange nicht recht. Doch Fake statt Fakt ist längst gängiges Mittel, sich der seriösen Diskussion zu entziehen. Weniger wäre auch hier mehr. Lassen wir uns deswegen nicht verrückt machen.
* Natürlich hat der Zick-Zack-Kurs des Bundesrates das Vertrauen arg strapaziert. Was nach dem Abflachen der ersten Welle den Sommer über gemacht oder eben nicht gemacht wurde, weckt Argwohn. Doch jede Massnahme ist nur so gut wie es jene sind, welche sie umsetzen müssen: nämlich wir. Diese Verantworung lässt sich nicht delegieren.
Die Regeln mögen zwar ändern, doch es gibt welche. Selbst wenn
Foto: Wolfgang Holz
sie unter «Versuch und Irrtum» laufen, sind sie letztlich Ausdruck einer uns vertrauten Normalität. Ein Albtraum daran zu denken, es gäbe keine … * Anlass zur Sorge gibt es auch aus gesellschaftlicher Sicht: Der Tonfall im öffentlichen Diskurs verschärft sich auf beiden Seiten des Corona-Grabens. Wenn der eigene Standpunkt überhöht und der andere gleichzeitig überhört wird, ist die Debatte tot. Wenn jeder etwas anderes unter Gerechtigkeit und Wahrheit versteht, dann fehlt der Diskussion das einigende Band. Wir laufen Gefahr, nur noch unser eigenes Corona-Echo zu hören.
* Das Maskentragen zum Beispiel ist eine Vorschrift, an deren Wirkung sich die Geister scheiden. Bemerkenswerterweise hält sich der überwiegende Teil der Bevölkerung trotzdem daran – die einen aus Überzeugung, die anderen aus Pflichtgefühl und wieder andere aus Konformismus. Ein kleiner Teil der Bevölkerung sieht darin jedoch einen Eingriff in die persönliche Freiheit. Sie appelliert an die Selbstverantwortung.
Doch bedenken diese Kreise, dass die Fürsorge eine gemeinschaftliche Aufgabe ist? Niemand kann sich alleine schützen, niemand für sich alleine immun sein. Der Staat hat eingegriffen. Für die einen zu liberal, für die anderen zu repressiv. Doch für die meisten irgendwie in Ordnung. Verlieren wir diese Verhältnisse nicht aus den Augen. Und hüten wir uns gleichzeitig davor, die Menschen vorschnell in Maskengegner und Maskenbefürworter zu schubladisieren. Jede Seite hat ihre Gründe, die es sich anzuhören lohnt. Seit dem Ausbruch des Virus ist ja nicht nichts passiert. Weder ist das Gesundheitswesen kollabiert, noch die Wirtschaft. Einiges lahmt zwar, doch es geht (vorwärts). Kurzarbeitsentschädigung, Erwerbsersatz und Überbrückungskredite haben die erhoffte Wirkung entfaltet. Eine Katastrophe sähe anders aus.
* Die Wirtschaftsleistung ist zwar insgesamt gesunken (wo nicht?), und einige Branchen stehen vor dem Kollaps; doch insgesamt präsentiert sich die Schweiz gut aufgestellt. Sie wirkt derzeit gar so gefasst, dass sich die Politik in den nächsten Wochen die Frage erlauben wird, wer mit einem nächsten Rettungspaket gerettet werden soll – wirklich jedes Unternehmen und jeder Arbeitsplatz? Was noch in Zeiten des Lockdowns als ketzerische Anmassung galt, ist bereits salonfähig und Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden: Soll man die Strukturen der Vergangenheit partout erhalten? Oder geht es nebst den Arbeitsplätzen von heute mehr noch um jene von morgen? Auch solche Fragen sind Ausdruck einer langsam zurückkehrenden Normalität. * Wir sind noch längst nicht über dem Berg. Und mit dem Winter wartet bereits die nächste Zerreissprobe. Doch mehren sich die Zeichen, dass wir dem Virus habhaft werden können: Die Präventionsmassnahmen sind gezielter, die Behandlungsmethoden wirksamer und die Hoffnungen berechtigter, dass ein Impfstoff absehbar einsetzbar ist.
* Wie lange wir weiterhin gezwungen sind, diese unsägliche Ohnmacht auszuhalten, bleibt ungewiss. Da müssen wir uns nichts vormachen. Zur Untätigkeit verdammt ist aber niemand. Im Gegenteil. Unverändert kann jeder und jede beitragen, selbst Teil der Lösung zu sein. Indem wir uns achten, helfen und unterstützen. Die noch so kleine Zuwendung im Alltag ist die beste Medizin, die bereits ausgerufene «Epidemie der Einsamkeit» zu besiegen. Es ist ein Akt in Demut.
* Doch wie gross eine Katastrophe auch gewesen sein mag, lehrt uns die Geschichte: Die Normalität ist noch immer zurückgekehrt. Selbst wenn wir sie nach Corona neu definieren müssen.