«Alles ist, wie es ist – und es ist gut, wie es ist»
Die 55-jährige Ingrid Steiner aus Wollerau stellt am 26. September an einer Vernissage ihre in den letzten zwei Jahren gestalteten Acrylbilder aus. Gleichzeitig findet eine Herbstdegustation der Weinhandlung Paracelsus statt.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Was haben Malerei und Wein miteinander zu tun?
Guter Wein muss reifen, die Kunst möglicherweise auch. Eine Herbstdegustation mit einer Vernissage zu verbinden, ist nicht alltäglich. Zu dieser speziellen Zusammenarbeit ist es gekommen bei einem guten Glas Wein mit Walter Schönbächler von der Weinhandlung Paracelsus. Zusammen entstand die Idee dieses gemeinsamen Projekts. Es ist meine erste Ausstellung: Ich bin ganz überrascht worden von der Anfrage und habe gar nicht an die Möglichkeit gedacht, meine Bilder auszustellen. Ich male ja auch erst seit Januar 2019. Welche Ziele haben Künstler und Winzer gemeinsam? Grundsätzlich wollen Winzer wie Künstler Werke und Weine kreieren, die einzigartig sind – mit Farbe und Pinsel. Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied: Ich habe nicht unbedingt das Interesse, mit meinen Bildern gefallen zu wollen, sie verkaufen zu müssen. Ich habe andere Ziele. Ich sehe mich auch weniger in der Rolle einer Künstlerin. Im Kindergarten-Seminar schaffte ich jedenfalls im Zeichnen nur die Note 4 bis 4,5. Ich kann nicht behaupten, dass mir ein grosses Talent in der Malerei in die Wiege gelegt worden wäre. Sie trinken selber gerne Wein?
Ja, ich trinke gerne Rotwein, am liebsten einen schweren Rioja aus Spanien. Den Weisswein lasse ich lieber stehen, der bekommt mir nicht so. Es gibt naturgemäss eine Gemeinsamkeit zwischen Rotweintrinken und Malen: Bei beiden Tätigkeiten kann man in einen Flow geraten, kann einfach alles laufen lassen. Einen Kater gibt es allerdings bei der Malerei nicht am Tag danach (lacht). Um welche Themen und Motive drehen sich Ihre Werke in Acryl? Vorwiegend handelt es sich um Frauen, teils auch um Tiere. Meistens geht es um Modelle, die ich als Inspiration brauche: Ich fotografiere Figuren aus Filmen, die am Fernsehen laufen. Dann zeichne und male ich diese Modelle ab. Und zwar mit einer speziellen Technik, so wie ich die Punkte und Striche auf die Leinwand bringe. Dank dieser Technik bin ich je nach Motiv schnell unterwegs. Seit Januar 2019 habe ich über achtzig Bilder gemalt. Wieso malen Sie Frauen und nicht etwa Männer? Vermutlich, weil ich selber eine Frau bin: Jedes Bild, jedes Motiv ist ein Teil von mir selbst. Schliesslich geht es um meine eigenen Emotionen, die mich bewegen zu malen – und ein Gefühl von Ganzheit, das sich bei dieser Tätigkeit einstellt. Kürzlich hat mich ein Film über ein jüdisches Mädchen in einem Flüchtlingsdrama so bewegt und mich mit Melancholie erfüllt, dass ich dieses Mädchen einfach abzeichnen musste. Ich konnte gar nicht anders. Dann stellte ich dieses Bild gar in mein Schlafzimmer: Irgendwie scheint dieses Mädchen etwas mit mir, mit meinem Leben zu tun zu haben. Wie kommen Sie dazu, von einem Tag auf den anderen mit der Malerei anzufangen? Der Ursprung lag wohl in meiner Therapie, in der ich die Ausdrucksmalerei kennen gelernt habe: Diese lässt einen loslassen und erkennen, dass alles in einem selbst, in sich, im Allerinnersten und sicher nicht im Kopf da ist. Dann kam der Tag in meinem Leben, als ich aus lauter Langeweile in den Keller ging und da die Kinderstaffelei mit Leinwänden und Acrylfarben meines Sohnes entdeckte. Von da an war es um mich geschehen. Als ich dann nach einer Chemotherapie im Januar 2019 zehn Tage zu Hause flach lag, vollends sediert, griff ich zum Pinsel. Ich war zwar durch die Chemotherapie geschwächt, gleichzeitig war aber dadurch auch die Widerstandskraft meines Kopfes reduziert, der womöglich die Malerei als ein Unding empfunden hätte. Hat ein verborgenes Talent in Ihnen geschlummert und ist dann wider Erwarten erwacht? Ich kann das gar nicht so genau benennen. Gewissermassen überwältigt war ich dann davon, wie gut meine Bilder angekommen sind, wie sie den Leuten gefallen. Das hat einfach gut getan. Dabei geht es mir schliesslich mehr um den Prozess des Malens, weniger um das Resultat. Eine meiner Fähigkeiten liegt wohl darin, dass ich genau beobachten kann, ein sehr exaktes Auge habe, gut übertragen kann, auch was dann die Farbmischung betrifft. Im Ablichten der Modelle liegt eine grosse Präzision, das ist mir wichtig. Wie ist aus Ihrer Krankheit Ihre Malerei entstanden? Als ich im Jahr 2017 die Diagnose Brustkrebs bekam, habe ich erst einmal mit der Krankheit und dem Tod gekämpft und gerungen. Nach der Entfernung des Krebsgewebes hatte ich eine gute Prognose. Ich hatte keine Chemotherapie und sagte auch, ich würde nie eine machen. Leider kam dann das Rezidiv, also wiederkehrender Krebs. Das war ein grosser Schock, und ich wusste, ohne Chemotherapie hätte ich kaum eine Überlebenschance. Also machte ich dann im Januar 2019 doch eine Chemotherapie. Denn es war doch klar für mich: Ich will leben! Hintergrund meiner Erkrankung war ein Burnout, das ich erlitten habe. Womöglich habe ich mich in dieser Zeit zu stark belastet, nicht mehr auf mich und meinen Körper gehört. Hinzu kam eine Depression, in die ich aufgrund eines Todesfalls in der Familie geraten bin. Wie kann eine schwere Krankheit neue Wege ermöglichen? Diese Zeit hat mich die Hingabe und Demut gelehrt, mit der Krankheit leben und einen Weg entdecken zu können, mich selbst zu finden und auf mich zu hören. Um schliesslich Versöhnung zu finden, indem ich den Tod annehmen konnte. Es geht auch darum, die Opferrolle ablegen zu können.
Welche Hoffnung wollen Sie den Besuchern der Ausstellung mit auf den Weg geben? Ich will den Menschen eine Würdigung zukommen lassen, die es geschafft haben, einen Umgang mit einer Krankheit zu finden. Ich möchte einen Dank für alle diejenigen aussprechen, die mich in dieser Zeit getragen haben. Ich fühle mich so stark wie noch nie in meinem Leben! Das erfüllt mich mit grosser Dankbarkeit. Ich möchte den Menschen die Hoffnung geben, dass neue Wege möglich sind – wenn man offen dafür ist. Bedingung dafür ist, dass man ganz im Hier und Jetzt ist und das Denken loslassen und ablegen kann. Es ist so befreiend, sich nicht mehr mit dem ganzen Alltagsmüll beschäftigen zu müssen, sondern sich den wesentlichen Dingen und Fragen hinzuwenden. Würden Sie die Malerei als Ihre Medizin betrachten, dank der Sie Heilung erfahren haben? Aus schulmedizinischer Sicht muss diese Frage mit einem Nein beantwortet werden. Es ist klar: Ich habe dank der Chemotherapie überlebt. Aber das Malen hat schon geholfen, dass ich loslassen kann – und damit das Ganze hinter mir zu lassen. Das Verrückte ist, dass es mir jetzt schon wieder schwerer fällt, den Pinsel an die Hand zu nehmen und zu malen. Als es damals echt um das Existenzielle ging, ist mir das leichter von der Hand gegangen. Der Kopf wird wieder stärker. Auf welche Art und Weise hat Sie die Krankheit verändert? Der Mensch ist in seinem Kern und bezüglich seines Charakters ein mehr oder weniger unveränderliches Wesen. Ich bin denn der gleiche Mensch, den ich seit jeher war, geblieben. Aber meine Haltung dem Leben gegenüber hat sich gewandelt. Ich kann das Leben, so wie es ist, besser annehmen als früher. Äusserlich betrachtet hat sich nicht so viel verändert. Ich werde mich wohl, wenn meine Kräfte es zulassen, wieder als Heilpädagogin bewerben und auf diese Art und Weise versuchen, wieder beruflich Fuss zu fassen. Ist die Kunst in der Lage, den Menschen zu verändern? Ja, das ist sie tatsächlich. Denn Kunst führt uns vollends weg aus dem Alltäglichen. Dabei hatte ich beim Malen oft das Gefühl, dass das gar nicht ich selber gewesen bin, der da den Pinsel geführt hat, sondern etwas Grösseres. Das unterstützt mich darin, mich nicht unbedingt selber als Künstlerin zu betrachten. Aber alles in allem hat mir die Kunst schon auch geholfen, selbstbewusster zu werden und aufzutreten, nicht mehr nur das Bauernmädchen aus Rieden zu sein. Ich habe viel Gelassenheit dank der Malerei erfahren. Kann mit Kunst das Leid bewältigt werden, das den Menschen heimsucht? Ja, dank der Kunst kann es möglich werden, aus dem Jammertal hinauszutreten. Sie hilft uns, bereit zu sein, den Schmerz anzunehmen. Das wiederum schafft erst den Freiraum in unserem Leben, den dann die Kunst einnehmen kann.
Haben Sie sich selbst die Frage gestellt, wieso bei Ihnen diese Krankheit ausgebrochen ist?
Ich glaube nicht, dass es in einem kausalen Sinne einen einzigen Punkt gibt, der dann zu einer Krankheit führt. Vielmehr liegt ein ganzes Paket mit verschiedenen Faktoren einer Krankheit zugrunde. Waren Sie belastet durch den Umstand, dass es Menschen gibt, die einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Schuld erkennen? Ich habe natürlich das Buch «Krankheit als Weg» von Thorwald Dethlefsen und Ruediger Dahlke gelesen. Ich glaube nicht, dass eine Krankheit entsteht, weil ich etwas falsch gemacht hätte. Es gibt in diesem Sinne nichts, was man falsch machen könnte. Jeder Mensch steht dort, wo er steht, und handelt so, wie es ihm möglich ist. Es geht vielmehr darum, sich mit dem, was ist, zu befreunden und es für das eigene Wachstum zu nutzen. Es ist Mumpitz, Krebskranken eine Schuld für ihre Krankheit in die Schuhe schieben zu wollen. Das ist einfach zynisch. Aber statt die Schuldfrage zu wälzen, wäre es besser, sich der Situation hinzugeben. Mich hat die Achtsamkeitsmeditation von John Kabat-Zinn sehr unterstützt. Fakt ist, dass eine Krankheit eine Chance sein kann, sich besser wahrzunehmen, sich zu verändern und das anzunehmen, was ist.
Hat für Sie die Kunst auch eine spirituelle Bedeutung?
Oh ja, das hat sie tatsächlich. Denn just bei der Kunst stellt sich ja die Frage: Und wer hat es gemacht? Vielleicht war es die «Kirche in mir», die das Bild gemacht hat? Hier kommen die Transzendenz und die Spiritualität ins Spiel: Es gibt etwas Grösseres in unserem Leben, das uns selbst übersteigt. Gibt es das Schicksal oder ist alles Zufall? Es ist einfach. Ich glaube nicht an das Schicksal in dem Sinne, dass zum Beispiel unser Tod vorprogrammiert wäre. Auf der anderen Seite wäre ja auch alles etwas ziemlich beliebig, wenn alles Zufall wäre. Es ist einfach. Alles ist, wie es ist. Und es ist gut, wie es ist.
An was glauben Sie selber?
Ich bin erst einmal ein einfaches Bauernmädchen gewesen, das gerne mit seinem Vater über Gott und die Welt philosophiert hat. Von daher war mir das Religiöse von Anbeginn vertraut, auch wenn ich nun nicht mehr streng kirchengläubig unterwegs bin. Ich bin sehr neugierig, was uns nach dem Tode erwartet, auch wenn ich keine konkreten Jenseitsvorstellungen habe. Es kann gut sein, dass uns nach dem Tode die Würmer fressen und alles vorbei ist. Aber irgendwie möchte ich doch an ein Leben nach dem Tode glauben. Wohin bewegt sich die Welt?
Man fühlt sich ohnmächtig angesichts des Umstands, dass sich die Menschen oft um Sachen kümmern, die komplett unwichtig sind. Und dass sie gleichzeitig ihrer Verantwortung nicht nachkommen und Menschen sterben lassen. Der Egoismus nimmt allerorten überhand. Es stimmt einen traurig, dass die Gleichgültigkeit so gross ist, wenn es um Ausbeutung und Menschenleben geht. Als ich in der Chemotherapie war, habe ich all die Nachrichten aus der Welt und der Politik gar nicht mehr ertragen. Doch die Krankheit war für mich die Chance, mich dem Leben gegenüber zu öffnen. Die Erde dreht sich weiter.
Die Bilder von Ingrid Steiner sind auf Facebook und Instagram zu finden (unter Ingrid Steiner)
Zur Person
ml. Ingrid Steiner ist am 9. April 1965 in Rieden geboren und in einer Bauernfamilie mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Sie hat eine Ausbildung zur Kindergärtnerin und Heilpädagogin sowie Kinesiologin absolviert. Anfang 2019 hat Ingrid Steiner die Malerei als Kunstform entdeckt. Zu ihren Hobbys gehören Lesen, Philosophieren, Gartenarbeit und Malerei. Ingrid Steiner ist geschieden und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie lebt in Wollerau.
Ingrid Steiner stellt an der Vernissage im Kultur- und Kongresszentrum Zwei Raben Bilder aus, die um den Wein und Menschenporträts kreisen. Foto: Magnus Leibundgut