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«Ich stelle mich gerne neuen Herausforderungen»

«Ich stelle mich gerne neuen Herausforderungen» «Ich stelle mich gerne neuen Herausforderungen»

Nach elf Jahren als Leiter der Propstei St. Gerold bricht Pater Kolumban Reichlin zu neuen Ufern auf: «Ich könnte mir ein Leben in einer Einsiedelei vorstellen.» Vorerst begibt sich der 49-jährige Benediktinermönch in eine halbjährige Sabbatzeit, bis er sich neuen Aufgaben im Kloster Einsiedeln zuwenden wird.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Während über zehn Jahren haben Sie im Grossen Walsertal gewirkt. Wie hat sich die Propstei St. Gerold in dieser Zeit gewandelt und verändert? Die Propstei hat sich in den vergangenen Jahren vor allem baulich, innerbetrieblich und personell verändert, da Adaptierungen, Optimierungen und Erneuerungen für den Erhalt eines Ortes und die Weiterentwicklung eines Betriebes unerlässlich sind. Sie waren Seelsorger, Hotelier, Kulturveranstalter, Sozialverantwortlicher und Bauherr in Personalunion. Welche Rolle ist Ihnen am stärksten ans Herz gewachsen? Ich liebe Abwechslung in der Arbeit, daher tue ich mich schwer, eine dieser Zuständigkeiten besonders hervorzuheben. Allen Bereichen gemeinsam ist die intensive Zusammenarbeit mit Menschen, die einerseits herausfordernd ist, die ich aber letztlich immer auch als Bereicherung erlebt habe. Im Umgang mit den Menschen habe ich einen Grossteil der Erfahrungen gesammelt und Erkenntnisse gewonnen, die mein Leben und Sein heute ausmachen. Angesichts der grossen Fülle Ihrer mannigfaltigen Aufgabenbereiche: Sind Sie an die Grenzen Ihrer Kräfte gestossen? Für die bisherige Tätigkeit in der Propstei hat meine Energie gut ausgereicht. Was mich zur Weitergabe der Verantwortung bewogen hat, war die Frage, ob die Kräfte ausreichen, das begonnene Gesamtsanierungsprojekt über die nächsten Jahre in derselben Qualität selber zu Ende zu führen. Wie sieht es mit der Finanzierung des Sanierungsprojekts aus? Mit den bisher investierten 14 Millionen Euro ist erst gut die Hälfte der baulichen Erneuerungsmassnahmen realisiert. Die gesamte Konzept-, Planungs-, Fundraisings- und Bautätigkeit erfolgt zudem parallel zum laufenden Ganzjahresbetrieb, dessen Umsatz in den letzten fünf Jahren um über 100 Prozent gestiegen ist, der also auch doppelt so betriebsam geworden ist.

Haben Sie selber einen Wechsel in der Leitung der Propstei St. Gerold vorgeschlagen? Nachdem die Propstei betriebswirtschaftlich mittlerweile auf gutem Weg ist und die zweite Hälfte der Gesamtsanierung noch mindestens 12 bis 15 Jahre beanspruchen wird, schien es mir richtig und wichtig, Abt Urban zu diesem Zeitpunkt einen Wechsel in der Gesamtverantwortung vorzuschlagen, zumal wir personell ja auch diese Möglichkeit haben. Ich glaube nicht, dass es realistisch ist, einen aufstrebenden und so vielschichtigen Betrieb wie die Propstei gleichsam über Jahrzehnte auf allen Ebenen innovativ zu führen und ihn gleichzeitig mit gleichbleibender Sorgfalt, Qualität und Liebe zum Detail einer aufwendigen Gesamtsanierung zu unterziehen, inklusive umfassendem und zeitintensivem Fundraising. Brechen Sie gerne auf zu neuen Ufern? Abgesehen davon bin ich vom Typ her kein «Sesselkleber» und stelle mich gerne wieder neuen Herausforderungen. Frische Ideen, neue Energie und ein neues Beziehungsnetz werden für die noch anstehenden, umfangreichen Sanierungsmassnahmen und für ein weiteres Aufblühen der Propstei nur von Vorteil sein. Das ist das Einzige, worauf es ankommt.

Nun begeben Sie sich in eine halbjährige Sabbatzeit: Werden Sie sich wie Meister Eckhart in die Stille und Meditation begeben?

Die halbjährige Sabbatzeit, die mir das Kloster grosszügigerweise ermöglicht, möchte ich zum Regenerieren und zur Weiterbildung nutzen. Da ich in diesem halben Jahr alleine und ohne E-Mail und Social Media unterwegs sein werde, wird es viel Zeit und Möglichkeit geben, die Stille zu geniessen und über Gott, die Welt und das Leben nachzudenken. Meister Eckhart lebte im Hochmittelalter, in der Blütezeit des Kloster- und Ordenslebens: Hätten Sie gerne in dieser Zeit gelebt?

Jede Epoche hat ihre Herausforderungen und bringt ihre Blüten hervor, auch das Mittelalter. Ich bin aber dankbar, hier und jetzt leben und wirken zu dürfen. Im Mittelalter haben die Menschen an Gott geglaubt. Wie deuten Sie die Zeichen der heutigen Zeit, in welcher der christliche Glaube zunehmend zu verdunsten scheint? Nach meiner persönlichen Wahrnehmung verdunstet derzeit mancherorts ein Glaube oder mehr noch eine Glaubenspraxis, die mit viel Menschengemachtem, Äusserlichem und Nebensächlichem beschäftigt und von Angst und einer sehr pessimistischen Welt- und Lebenssicht geprägt ist. Einem solchen Glauben mangelt es verständlicherweise an Anziehungskraft für verantwortungsbewusste, suchende und fragende Menschen von heute, die Freude an der Schöpfung und am Leben haben. Erkennen Sie ein neues Bewusstsein in unserer Gesellschaft?

Andererseits wächst auch und gerade in der kirchenkritischen Gesellschaft zunehmend ein waches Bewusstsein für eben diese Schöpfung und für das Leben, die einmalig, kostbar und sehr verletzlich sind. Das finde ich bemerkenswert und sehe ich als kraftvolles Zeichen dafür, dass Gottes Wege unergründlich sind und dass er seine Schöpfung nicht im Stich lässt.

Gibt es nur einen Gott in unserem Universum?

Die Geschichte und das Leben lehren uns, dass das Gottesgeheimnis keine institutionellen oder konfessionellen Grenzen kennt. Es findet immer Wege zu den Herzen schöpferischer und aktiver Menschen, um diese für eine verantwortungsbewusste, gute Zukunftsentwicklung zu sensibilisieren und zu inspirieren. Es ist wünschenswert und kostbar, wenn Vertreter religiöser Gemeinschaften in diesem Geheimnis verwurzelt sind und von dieser Lebenskraft und Zukunftshoffnung ergriffen ihr Leben, ihr Tun und Lassen gestalten und dadurch gewinnend in die jeweilige Zeit ausstrahlen. Selbstverständlich aber ist das nicht. Die Sehnsucht nach einem höheren Lebenssinn treibt immer mehr Menschen um. Was macht moderne Spiritualität aus? Unsere Zeit braucht Menschen, die als Frucht ihrer dynamischen Gottesbeziehung das Leben positiv und im grossen Schöpfungszusammenhang zu sehen und zu interpretieren verstehen. Im Glauben geht es einzig und allein um das Leben, um ein gutes Leben – um seinen Wert, seine Würde, seine Schönheit, seinen Sinn und sein Ziel. Daher ist religiöse Spiritualität authentisch, reif und auch ansteckend, wenn sie das Leben und die Schöpfung vorbehaltlos liebt und ihnen dient.

Wie kommt für Sie persönlich Mystik zum Ausdruck? Das «Mysterium» und Faszinosum der Gottesrealität erfahre ich dort, wo Menschen allen unvermeidbaren Schwierigkeiten und Enttäuschungen zum Trotz sich aufgrund einer lebendigen Gottesbeziehung die Freude am Leben bewahrt haben und diesem Leben und seiner positiven Entwicklung mit all ihrer Kraft und mit all ihren Talenten engagiert und leidenschaftlich dienen. Wer mit wachem Herzen und offenen Sinnen durchs Leben geht, entdeckt, dass es immer und überall mystische Frauen und Männer gibt. Für mich persönlich sind solche Menschen kostbare Motivatoren und Wegbegleiter. Wie haben Sie die vergangenen elf Jahre im Grossen Walsertal erlebt? Die elf Jahre in St. Gerold waren für mich eine abwechslungsreiche und unglaublich spannende und «reiche» Zeit, in der ich viele interessante Menschen kennen lernen und wertvolle Erfahrungen unter anderem in der Seelsorge wie auch in Betriebs- und Personalführung, in Verwaltung, Konzept-, Planungs-, Bauarbeit und Fundraising sammeln durfte. All diese Erfahrungen haben mich fachlich wie auch menschlich- spirituell stark geformt und geprägt. Hat Ihnen in dieser Zeit die Einsiedler Klostergemeinschaft gefehlt? Ich bin mit den Mitbrüdern seit Jahren als Suchender und Fragender unterwegs. Die Verbundenheit ist geblieben, auch wenn ich aufgrund der Distanz und der vielen Arbeit in den letzten Jahren in St. Gerold die Beziehung zu ihnen kaum aktiv pflegen konnte.

Die Zeit der Wüstenmönche und Eremiten ist längstens vorbei: Wäre es für Sie nichtsdestotrotz vorstellbar, ein Leben in einer Einsiedelei zu führen? Ja, das könnte ich mir gut vorstellen. Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt, ob nach diesen intensiven Jahren mit ständiger Präsenzzeit nicht eine Zeit des Rückzugs in die Einsamkeit und Stille richtig und wichtig wäre für mich. Reflexion und Intuition spielen eine existenzielle Rolle in meinem Leben, wofür die Stille unabdingbar ist. Nun darf ich eine solche «Eremiten- Zeit» in gewisser Weise in verkürzter Form erleben. Ob es in einer Art und Weise eine Fortsetzung geben wird, werden wir sehen.

Als Sohn einer Jodlerin und ehemaliger Chorleiter, Klavier- und Orgelspieler liegt Ihnen die Musik im Blut: Hätten Sie sich vorstellen können, dass aus Ihnen ein Musiker geworden wäre? Spasseshalber sage ich jeweils, dass ich vermutlich Jodler geworden und nicht ins Kloster eingetreten wäre, wenn Gott mir eine ausgeprägte Tenorstimme geschenkt hätte. Es hat nicht sein sollen … Werden Sie sich nach Ihrer Rückkehr nach Einsiedeln wieder vermehrt der Musik zuwenden?

Wohl höchstens im bisherigen Rahmen, dass ich beim einen und andern Auftritt im Familienquartett mitsingen werde. Welchen Aufgaben werden Sie sich im Kloster Einsiedeln widmen?

Abt Urban hat mit mir über mögliche Tätigkeiten gesprochen. Doch wollte ich mich bewusst noch nicht im Detail mit dieser Frage beschäftigen, um frei in Kopf und Herz in die Sabbatzeit gehen zu können.

Wohin bewegt sich die Welt? Wie jede Zeit wird auch die Zukunft vor grossen Herausforderungen und Krisen nicht verschont bleiben. Das ist Teil der Realität, dass die gesamte Schöpfung, auch die Menschheit, sich unablässig in Veränderung, im Prozess des Werdens, Wachsens und Reifens befindet. Insgesamt aber geht die Evolution vorwärts, nicht zurück. Die Menschheit hat heute das Potenzial, diese Entwicklung global positiv wie negativ nachhaltig zu beeinflussen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Vernunft, die Sehnsucht nach dem Leben oder mitunter auch der Leidensdruck die Menschheit vor einer umfassenden Zerstörung ihres Lebensraumes bewahren werden und der Welt insgesamt auch weiterhin eine gute, lebenswerte Zukunft bevorsteht.

«Jede Epoche hat Herausforderungen und bringt ihre Blüten hervor, auch das Mittelalter.» «In der kirchenkritischen Gesellschaft wächst ein Bewusstsein für die Schöpfung.» «Gottes Wege sind unergründlich. Er lässt seine Schöpfung nicht im Stich.» «Ich wäre Jodler geworden, wenn Gott mir eine gute Tenorstimme geschenkt hätte.»

Pater Kolumban Reichlin bricht auf in eine halbjährige Sabbatzeit: «Nun habe ich Zeit, über Gott und die Welt und das Leben nachzudenken.» Foto: zvg

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