«Heimbewohner sollen eine Patientenverfügung ausfüllen»
Am 18. Mai wies die Schwyzer Regierung die Spitäler, Pflegeheime und Behinderteninstitutionen an, ein Schutzkonzept zu erarbeiten, das es diesen erlaubt, das Besuchsverbot zu lockern. Das reicht nicht, sagt Daniel Burger, Präsident der Ärztegesellschaft Schwyz. Bewohner von Alters- und Pflegeheimen seien nach wie vor zu stark eingeschränkt.
ANOUK ARBENZ
Die Ärztegesellschaft Kanton Schwyz setzt sich für einen differenzierten Umgang mit den Schutzmassnahmen in den Alters- und Pflegeheimen ein. Was heisst das genau? Da Bewohner von Alters- und Pflegeheimen zu den vulnerablen Gruppen gehören, ist es Aufgabe der Heime, sie optimal vor dem Virus zu schützen. Aber das muss man differenziert betrachten, denn man darf die Bewohner auch nicht einfach einsperren. Man muss ihren Wunsch nach persönlicher Freiheit respektieren und nicht daran denken, wie gut oder schlecht die Statistik aussieht. Wie ist die Ärztegesellschaft zu dieser Ansicht gekommen – haben sich die Alters- und Pflegeheime an sie gewandt oder gibt es andere Beispiele, die das verdeutlichen?
Ich habe mit einigen Heimbewohnern gesprochen. Der Tenor ist ganz klar: Sie wollen mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, und das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und daran zu sterben, in Kauf nehmen. Ich habe auch mit Luca Stäger, CEO des Tertianum, gesprochen, der seinerseits ebenfalls das Gespräch mit den verschiedenen Heimleitungen gesucht hat. Auch dort hiess es durchs Band, dass die Heimbewohner froh wären, wenn sie mehr Freiheiten hätten. Sie wissen, dass der Tod zum Leben dazugehört und sie ihm näherkommen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man den Menschen auf diesem letzten Stück möglichst viel Autonomie und persönliche Freiheit lässt. Wie sehen es die Alters- und Pflegeheime?
Einerseits sind sie vom Kanton angewiesen worden, ein Schutzkonzept auszuarbeiten und die Leute zu schützen, andererseits wollen sie ihren Heimbewohnern gerecht werden. Der Kanton hat die Heime angewiesen, das Besuchsverbot zu lockern, aber überlässt es diesen, wie dies genau umzusetzen ist.
Die Heimleiter stehen unter enormem Druck, weil sie den Eindruck haben, es dürfe niemand sterben. Dieser Druck wird durch die Presse verstärkt, die über Tote und Infizierte in den Heimen berichtet – wir erinnern uns an die Fälle in Oberarth. Dabei sollte der Fokus nicht auf dem Ableben, sondern auf der Lebensqualität dieser Menschen liegen. Durchschnittlich verbringt eine Person zwei Jahre in einem Alters- oder Pflegeheim, bevor sie stirbt. Man sollte schauen, dass man ihr in diesen zwei Jahren nicht unrecht tut, indem man sie zu stark einschränkt.
Welche Lösung schlagen Sie vor? Wir schlagen vor, dass die Heimbewohner eine Patientenverfügung ausfüllen, in der sie klar definieren, was sie wollen. Das heisst, wenn ich krank werde, und wahrscheinlich ist es Covid- 19: Will ich in ein Spital gebracht werden, wenn es nötig wird, oder will ich im Heim bleiben mit dem Risiko, dass ich daran sterben kann? Wenn ich ins Spital will: Will ich auf eine Intensivstation? Will ich beatmet werden? Will ich reanimiert werden?
Anhand der Antworten wird es zwei Gruppen von Bewohnern geben: Jene, die sagen: «Ich hatte ein super Leben, ich bin 96 Jahre alt und möchte nicht in meinem Sozialleben eingeschränkt werden. Sollte ich mit Covid-19 infiziert werden, akzeptiere ich, dass ich vielleicht daran sterbe.» Dann gibt es die andere Gruppe, die stark am Leben hängt und lieber den bestmöglichen Schutz mit Isolation erreichen möchte. Gibt es denn heute noch keine Patientenverfügung in Bezug auf Corona? Vereinzelt gibt es das. Zürich hat das stark gepusht und den Pflegeheimen ausdrücklich gesagt, dass sie mit Patientenverfügungen arbeiten sollen. Sie haben auch sofort Kontaktboxen für die Bewohner einrichten lassen. Im Kanton Schwyz war das nicht so. Es hiess: Ihr müsst ein Schutzkonzept haben. Aber ihr müsst das selber organisieren. Wie soll dies geregelt werden, wenn erst einmal klar ist, wer was will?
Das Alters- und Pflegeheim muss ein Konzept haben, wie es diese beiden Gruppen trennt. Das heisst, das Heim muss zwei Abteilungen schaffen. Zum Beispiel eine Etage, auf der man komplett geschützt ist, vielleicht regelmässig Abstriche macht und wo sicher nur Gesunde raufdürfen, und eine zweite Etage, die offener gestaltet ist. Und die geschützten Heimbewohner essen dann auf ihrem Zimmer? Das Essen ist natürlich ein wichtiger Aspekt im Heim. Im Normalfall essen alle zusammen. In einem solchen Konzept müssten die Geschützten dann wirklich im Zimmer essen oder im kleinen, strengen Rahmen, wie es jetzt in der Gastronomie der Fall ist. Ist dies innerhalb desselben Gebäudes nicht problematisch? Etwa weil die Pflegefachpersonen überall sein müssen? Das kann man schon trennen. In den Spitälern ging es ja auch. Dort wurden Covid-19-Abteilungen eingerichtet. Die Pflegenden arbeiteten auf beiden Stationen und mussten einen Schutzanzug anziehen, eine Maske, Brille, Handschuhe und so weiter, wenn sie auf die Covid-19-Station wechselten.
Gibt es denn jetzt genug Schutzmaterial?
Jetzt schon, ja.
Das Konzept hat den Nachteil, dass jene, welche geschützt sein wollen, so noch stärker isoliert werden.
Das ist richtig, aber das ist ihr eigener Wille, das ist ein wesentlicher Unterschied. Es geht darum, selbstbestimmt leben und sterben zu können. Ich glaube, dass wir diesbezüglich die Heime auch entlasten müssen. Denn der Kanton sagt: Unser höchstes Ziel ist der Schutz der Bevölkerung. Das ist auch richtig. Er sagt: Schaut, dass sie nicht krank werden, schaut, dass sie nicht sterben. Und das geht nicht.
Fakt ist: In der Schweiz haben 53 Prozent der Corona-Todesfälle ihren Ursprung in einem Alters- und Pflegeheim. Die restlichen 47 Prozent starben im Spital oder zu Hause. Mehr als die Hälfte stirbt also in den Heimen. Die Alters- und Pflegeheime haben keine Schuld daran, dass diese Leute gestorben sind. Wurde der Fokus zu wenig auf die Alters- und Pflegeheime gesetzt und zu stark auf die Spitäler?
Am Anfang vernachlässigte man diese tatsächlich. Auch bezüglich des Schutzmaterials. Man hatte auch Angst, Hausärzte ins Heim zu lassen, um Abstriche zu machen. Später hat sich das verbessert.
Kantonsrat Antoine Chaix (SP), auch ein Arzt, hat im Mai eine Interpellation eingereicht. Decken sich Ihre Forderungen mit seinen? Sie gehen in diese Richtung, ja. Er fragt den Regierungsrat, wie dieser gedenke, die Lockerung in den Alters- und Pflegeheimen umzusetzen. Denn der Regierungsrat sagt nicht, wie man es machen muss, nur, dass man es machen muss. Und er stellt keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung. Ich erwarte nicht, dass die Regierung von dieser Weisung abkommen wird. Aber wie ich mitbekommen habe, ist Chaix mit seiner Interpellation auf positives Echo im Kantonsrat gestossen.
Sie haben selber einen Brief an die Regierung verfasst – was ist darin zu lesen? Wir wollten die Regierung sensibilisieren, dass die Sache komplexer ist und nicht einfach an die Alters- und Pflegeheime delegiert werden sollte. Der Kantonsärztliche Dienst antwortete uns, dass sie daran seien, unser Anliegen zu bearbeiten. Ich denke, das kann noch dauern, bis wir hier eine konkrete Antwort erhalten.
Die Institutionen brauchen aber jetzt eine Lösung – und zwar eine Lösung für die nächsten zwei, drei Jahre, denn wir werden mit dem Virus noch lange leben müssen. Vor allem die vulnerablen Bevölkerungsgruppen werden immer in Gefahr sein. Das Schutzkonzept muss also für mehrere Jahre «verhebe ». Deshalb muss man sich überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, dass man zwei Abteilungen macht und die Leute selber entscheiden lässt. Denken Sie daran, politisch aktiv zu werden, wenn die Antwort nicht wie gewünscht ausfällt? Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass wir einen Vorstoss wagen könnten.
Daniel Burger, Präsident der Ärztegesellschaft Schwyz, setzt sich für die Selbstbestimmung von Heimbewohnern ein.
Foto: Anouk Arbenz