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Man sieht nur die Spitze des Eisbergs

Man sieht nur die Spitze des Eisbergs Man sieht nur die Spitze des Eisbergs

Unfreiwillige Auszeit wegen Corona – Andreas Kälin ist Mitinhaber einer Firma in der Eventbranche

Sie werden wohl die Letzten sein, die ihre Arbeit wieder sukzessive hinauffahren können: Organisatoren von internationalen Grossveranstaltungen wie beispielsweise Konzerte oder Fussballspiele. In dieser Branche ist auch der Egger Andreas Kälin tätig.

MARLIES MATHIS

Eigentlich wäre der 44-jährige Andreas Kälin momentan seit rund 14 Tagen in Danzig, Polen, wo der diesjährige UEFA Europa League Final diese Woche stattgefunden hätte. Und er hätte wohl mitgefiebert und sich über die wie immer faszinierende Stimmung im Stadion mit den vielen Zuschauern gefreut, die nebst der spannenden Begegnung auf dem Spielfeld erst den Reiz einer solchen Grossveranstaltung ausmachen. – Wenn nicht das Coronavirus dazwischen gekommen wäre.

Der Egger, welcher in St. Gallen Ökonomie studiert und bereits als Student temporär im Eventbereich gearbeitet und Erfahrungen gesammelt hat, ist seit 2006 zusammen mit zwei Kollegen Inhaber der «Bullitt Productions LLC» in Zürich. Die Firma beschäftigt 5 Vollzeit- und momentan 30 Teilzeitangestellte. Je nach Anlassgrösse und -ort kann sie auf ein internationales Netzwerk von vielen selbstständigen Mitarbeitenden zählen. Sie ist spezialisiert auf die technische und logistische Planung und Durchführung von Veranstaltungen jeglicher Art und Dimension.

Ein Anlass fasziniere meistens nicht nur die Zuschauer, es sei sozusagen auch immer ein Erlebnis für die Akteure hinter den Kulissen, führt der Egger Andreas Kälin aus. Die Spannweite dieses Berufs sei sehr breit. Nebst der Koordination lege er selber übrigens ebenfalls immer gerne Hand an, wo es nötig sei, oder er fahre auch mit dem Stapler. Zum Glück habe er schon von klein auf in der EggHolz Kälin AG, dem Geschäft seines Vaters, lernen dürfen anzupacken und praktisch mitzuarbeiten. Seine eigene Begeisterung, ja sein Herzblut für die abwechslungsreichen und oft auch überraschenden Tätigkeiten rund um den Globus und für «seine» Firma sind in all seinen Äusserungen geradezu spürbar.

Anlässe mit grosser Ausstrahlung Bester Beweis für die Zuverlässigkeit und Effizienz dieses relativ kleinen Geschäfts im Eventbereich sind die klingenden Namen ihrer immer wiederkehrenden, weltweit bekannten Produktionen wie zum Beispiel das Jazz-Festival in Montreux, das Moon& Stars-Festival in Locarno, aber auch die Fussballspiele der UEFA in ganz Europa, wie gesagt der Europa League Final, das jährliche Endspiel der Champions League und ebenso der Weltmeisterschaftsfinal im Eishockey. Gerade dieser Ausfall sei heuer besonders schade, hätte dieser Final doch in der Schweiz stattgefunden, und er und alle Mitarbeiter hätten sich sehr auf diesen Höhepunkt in ihrem eigenen Land gefreut, meint der Projektleiter verständlicherweise etwas enttäuscht.

Dieser Anlass sei immer etwas ganz Besonderes, führt er aus und erzählt fast ein wenig stolz, wie sie 2016 in Moskau den WM-Teilbereich Zeremonie organisiert hätten und der russische Präsident Wladimir Putin anlässlich der Siegerehrung auf ihrer Bühne die Worte an die Spieler und Zuschauer gerichtet hätte. Da sei übrigens alles unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen erfolgt, einzig sie seien stets unbehelligt und unkontrolliert ein- und ausgegangen, schmunzelt er heute noch kopfschüttelnd.

Von hundert auf null Da ihre Firma vor allem international tätig sei, seien sie sehr früh mit dem Coronavirus konfrontiert worden. Bereits im Februar sei es immer schwieriger geworden, Spiele oder grosse Konzerte im Ausland durchzuführen. Trotzdem sei es ein Schock gewesen, als jegliche Anlässe, auch in der Schweiz, auf ungewisse Zeit verboten wurden. Die bei vielen daraus resultierende Existenzangst habe ihn persönlich nicht gepackt, er mache sich jedoch Sorgen um seine Mitarbeiter und die temporären Einsatzkräfte, wie beispielsweise zahlreiche Studenten, die mit dieser Arbeit einen Teil ihres Lebensunterhalts verdient hätten und die nun ohne Job und Entschädigung dastehen würden. Ebenso treffe es viele Zulieferer, Firmen und selbstständige Mitarbeiter im Ausland, die mit ihnen zusammengearbeitet hätten und die auf diesen Verdienst angewiesen wären, würden sie doch als Organisator alles benötigte Material von diversen Leuten zumieten.

Man sehe als Zuschauer am Schluss jeweils nur das fertige Produkt, respektive das Spiel und die Siegeszeremonie, oder man tauche als Zuhörer in die Atmosphäre eines Konzerts ein und wisse eigentlich gar nicht, welche Vorarbeiten und welcher Aufwand dahinterstecken würden. Kurz gesagt, sei es nur die Spitze des Eisbergs, welche sichtbar sei.

Immerhin hätten sie für die Festangestellten Kurzarbeit anmelden können und sich in der Geschäftsleitung ausgetauscht, was ausserdem machbar wäre. Ebenso hätten sie diverse situationsangepasste Konzepte erarbeitet und wären bereit zu starten, wenn eine Lockerung der Vorgaben in Sicht wäre. Aber gerade diese Dimension der Ungewissheit, die weder vorhersehbar noch planbar ist, und der fehlende Zeithorizont würden eine grosse Unsicherheit verursachen. Die Lage sei deshalb auch belastend, was die Zukunft des Geschäfts und der Mitarbeitenden angehe. Ihre Branche werde wohl als Letzte einen Normalbetrieb aufnehmen können, allein schon wegen der limitierenden Faktoren für Reisen ins Ausland, geschweige denn von der Anzahl der Besucher ihrer Veranstaltungen her. Wenn es denn jemals wieder zu einer Normalität komme, sinniert der engagierte Projektleiter. «Oder müssen wir uns vielleicht ganz umorientieren? Dieses Virus trotz all seiner negativen Seiten auch als Chance sehen, Altes und Eingefahrenes zu bereinigen, aktiv neue Wege zu beschreiten und das Positive darin zu suchen?»

Seit Wochen im gleichen Bett

Persönlich hat Andreas Kälin in dieser Situation bereits einige für ihn ungewohnte und bereichernde Erfahrungen gemacht, wenngleich er sich seine geliebte Arbeit zurückwünscht und erhofft. Zum Glück habe er aber eine Perspektive und könne in der EggHolz Kälin AG mitarbeiten, wo er beispielsweise zusammen mit dem Routinier «Sebi Birchler» stundenlang Bretter nach ihrer Qualität sortiert und das Metier von Grund auf kennenlernt.

So erlebe er ein völlig neues Zeitgefühl und eine wiederkehrende Struktur, die dem Tag einen Rhythmus gebe. «Wenn um neun Uhr Pause ist, dann gilt das auch, egal, ob da noch drei Bretter oder eine ganze Beige liegen, und am Freitagabend sei wirklich Feierabend und die Woche fertig », erzählt der sympathische Allrounder lachend. Ausserdem wohne er zurzeit wieder bei seiner Mutter Kalli Kälin in Egg und sei seit Wochen, ja Monaten, morgens immer im selben Bett erwacht. Er geniesse dieses spezielle Gefühl, das er seit über 15 Jahren nicht mehr gekannt habe und das ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Aktivitäten, Terminen und oft auch stressigen Momenten stehe. Im Normalfall seien die ersten Gedanken beim Aufwachen meistens gewesen: Wo bin ich gerade? Muss ich aufs Flugzeug? Er fühle sich jetzt gerade einfach wohl und daheim, auch wenn ihn ab und zu das Fernweh plage.

Als riesiges Privileg sieht der Egger, der Wohnsitz in der Stadt Zürich hat, ebenso, dass er sich einfach aufs Velo schwingen und direkt vor der Haustüre Wege erkunden kann, die er bis jetzt noch nicht gekannt hat oder schon lange nicht mehr gefahren ist, und er beginnt sogleich von der Chörnlisegg oberhalb von Egg, der einmaligen Aussicht und der Ruhe dort zu schwärmen und meint nachdenklich: «Gesünder wäre es wohl auch noch.»

«Man sieht als Zuschauer nur das fertige Produkt, respektive das Spiel und die Siegeszeremonie und weiss eigentlich gar nicht, welche Vorarbeiten und welcher Aufwand dahinterstecken.»

Andreas Kälin

«Ich geniesse dieses spezielle Gefühl, das ich seit über 15 Jahren nicht mehr gekannt habe.»

Andreas Kälin (rechts) arbeitet momentan coronabedingt in der EggHolz Kälin AG und sortiert zusammen mit Sebi Birchler Bretter nach ihrer Qualität, wobei er von der Erfahrung des langjährigen und humorvollen Angestellten viel profitieren kann. Foto: Marlies Mathis

Die Bühnencrew des Energy Air 2019 im Stade de Suisse in Bern mit dem Egger Andreas Kälin (vorne rechts). An diesem eintägigen Open Air treten jeweils gut 15 Bands auf und es finden sich 40’000 begeisterte Zuhörer ein.

Foto: zvg

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