Veröffentlicht am

«Das Virus macht Stress»

«Das Virus macht Stress» «Das Virus macht Stress»

Der Einsiedler Psychiater Kaspar Schnyder über seelische Belastungen in Zeiten von Corona

Seit Wochen verändert das Coronavirus unsere gewohnte Normalität. Welche Beobachtungen macht der Einsiedler Psychiater Kaspar Schnyder angesichts dieser seelischen Belastungen? Im Interview beschreibt er nicht nur depressive Gemütszustände. Er begreift die Corona-Krise auch als gesellschaftliche Chance. Und gibt Tipps, wie wir sie überstehen können.

WOLFGANG HOLZ

Herr Doktor Schnyder, seit Wochen beschäftigt die Welt nur noch ein Thema. Wie sind Sie als Psychiater in Einsiedeln von der Corona-Krise betroffen? Ich bin zurzeit von verschiedener Seite her gefordert. Ich habe eine psychiatrische Praxis, deren Mitarbeiter sich aktuell in Kurzarbeit befinden. Ich selbst arbeite währenddessen etwas intensiver in meiner eigenen Praxis und im regionalen Notfalldienst. Im Gegensatz zu den somatischen Praxen und öffentlichen Diensten ist die Arbeitsbelastung eher grösser geworden. Ich arbeite analog mit Patienten und Patientinnen, die keiner Risikogruppe angehören – natürlich unter Einhaltung von Hygieneund Abstandsregeln. Personen aus Risikogruppen betreue ich per Skype, WhatsApp oder Face-Time. Bei älteren Menschen trage ich eine Gesichtsmaske. Da haben Sie in der Tat viel zu tun. Beobachten Sie unter Ihren Patienten zunehmend explizite Rückmeldungen, dass das Coronavirus sie seelisch belastet? Es gibt quasi nur bei Personen mit Zwangsstörungen die Rückmeldung, dass das Virus sie belaste. Ein Teil der Menschen mit dieser Störung hat generell Angst vor Keimen, mit denen sie sich oder andere gefährden könnten. Meistens fühlen sich die Betroffenen jedoch durch die Coronavirus-Schutzmassnahmen belastet. Um welche Belastungen handelt es sich?

Um Belastungen wie Kurzarbeit, drohender Arbeitsplatzverlust, Distanzverhalten und Aggressivität der Mitmenschen. Aber auch um Einschränkung der persönlichen Freiheiten und um drohenden Impfzwang. Diese Personen haben auch Angst, jemanden anzustecken, den man liebt. Angst, dass die Welt nie mehr so sein wird wie bisher. Es ist aber auch anzumerken, dass es ebenso viele Patienten gibt, welche die positiven Auswirkungen der Coronavirus- Schutzmassnahmen auf Verkehrslärm, Hyperkonsumismus, Zeitmangel, Hektik und Umweltbelastung als erfrischend empfinden.

Welche Gemütszustände sind dabei festzustellen? Wie bei den meisten regionalen, nationalen und globalen Krisen stehen verletzliche Menschen unter höherem Anpassungsdruck als belastbare Menschen. Das sahen wir beim Brand in Schweizerhalle, bei «Nine-Eleven », beim Golfkrieg, in der Finanzkrise 2008. Verletzliche Menschen fühlen sich schneller und stärker bedroht und werden auch schneller isoliert und marginalisiert als resistente und anpassungsfähige.

Gibt es auch noch andere menschliche Reaktionen? Ja, es gibt auch Personen, die humorvoll reagieren und sagen, dass sich für sie gar nichts verändert habe, weil sie eh schon ein isoliertes und eingeschränktes Leben führen würden. Sie fühlen sich eher verstanden, weil die Mehrheit der anderen nun auch erfahren kann, wie sich das anfühlt. Einige wenige Krankheitsfälle beziehen sich spezifisch auf die Corona-Krise. Die Betroffenen fühlen sich beobachtet, beeinträchtigt und verfolgt oder verrennen sich in Verschwörungstheorien gegen sich selbst und andere. Kann man bei solchen Patienten quasi von einer «Corona-Depression » sprechen? Ich würde nicht von Corona-Depression sprechen. Patienten, die eine komplizierte oder gar kritische Coronavirus-Infektion durchmachen, können wie bei jeder schweren Virusinfektion depressiv entgleisen. Sekundäre Depressionen wegen der Auswirkungen der Krise auf das persönliche und öffentliche Leben würde ich nicht als Corona-Depression bezeichnen. Das Auftreten von Krankheiten folgt generell einem Zusammenspiel von Stress, Verletzlichkeit und Bewältigungsfähigkeiten. Dabei stellt die Coronavirus-Krise den Stressfaktor dar. Die Verletzlichkeit und unwirksame Bewältigungsstrategien bestehen in der Regel bereits. Befürchten Sie, dass Menschen, die nun schon über Wochen hinweg tagtäglich mit dem lebensbedrohlichen Virus und teilweise sozialer Isolation konfrontiert sind, psychische Schäden davontragen? Das «lebensgefährliche» Virus ist mit Ausnahme der bekannten Risikogruppen für die Menschen weniger bedrohlich als die Isolationsmassnahmen. Diesbezüglich hege ich einige Befürchtungen. Der Verlust von Arbeitsplatz, von Beziehungen und mühsam aufgebauten Lebensträumen könnte verletzliche Menschen langfristig krank machen. Das vermag die Psychiatrie allein nicht zu stemmen. Dazu braucht es die Unterstützung von Staat und Gesellschaft.

Welche therapeutischen Strategien können Sie als Psychiater und Psychotherapeut Menschen in Corona-Zeiten empfehlen, um seelisch stabil zu bleiben?

Es gibt aus meiner Sicht keine coronaspezifischen psychohygienischen Sonderstrategien. Es geht darum, die aktuelle Situation nicht nur als Katastrophe zu dramatisieren, sondern auch als einzigartiges Experiment zu begreifen. Ein Experiment, welches unsere hypermobile, hyperkonsumistische, lärmende und stinkende Gesellschaft wieder etwas in die Schuhe stellt. Die Strategie, Schwache zu schützen und die eigene Belastbarkeit zu fördern, ist eine wirkliche Chance zum Innehalten und zum Reflektieren.

Das hört sich fast an wie die Neuauflage des benediktinischen «Ora et labora». Wie kann man dieses Innehalten und Reflektieren im Alltag umsetzen? Durch eine sorgfältige Ernährung, Bewegung in der Natur und einen bewussten Umgang mit Genussmitteln. Durch das Vermeiden von Suchtmitteln ebenso wie durch die Pflege von Beziehungen und Selbstfürsorge sowie durch die gezielte Einführung von Entspannungstechniken im Alltag. Das gilt nicht nur für die Zeiten von Corona. Aber gerade jetzt haben wir Menschen vermehrt Zeit, diese Elemente wieder wichtig zu nehmen. Das zeigen auch die leeren Gemüseregale, der erhöhte Einkauf von Saatgut, Hefe und Grundnahrungsmitteln. Dieses Verhalten ist aus meiner Sicht nicht primär Ausdruck von Hamsterkäufen, sondern vielmehr die Abkehr vom bisherigen «Outsourcing» der Selbstfürsorge an die Nahrungsmittelindustrie, das Gastgewerbe, die Technologie, die Justiz und die Medizin.

Das Coronavirus scheint uns und unsere Welt also auch ein Stück weit positiv verändern zu können. Wie hat der Erreger bis jetzt auf Sie persönlich Einfluss genommen? Für mich hat Corona wenig verändert. Ich fahre fast immer mit dem Fahrrad, bin jeden Tag im Freien, backe mein Brot selbst, halte Schafe im Garten und pflege mich selbst und meine soziale Umgebung. In der Arbeit halte ich mich an Hygiene- und Abstandsregeln und trage Handschuhe und Maske, wenn ich Patienten körperlich untersuchen muss. Den Handschlag vermisse ich allerdings etwas, denn er ist ein diagnostisches Instrument in Bezug auf die Patienten. Ich konzentriere mich nun eben auf andere Signale. Für mich persönlich hat die Arbeitsbelastung in Zeiten von Corona allerdings nicht abgenommen und wird in den nächsten Monaten eher noch zunehmen. Das bereitet mir etwas Sorgen.

«Es gibt auch Personen, die humorvoll reagieren und sagen, dass sich für sie gar nichts verändert habe, weil sie eh schon ein isoliertes und eingeschränktes Leben führen würden.» «Ein Experiment, welches unsere hypermobile, hyperkonsumistische, lärmende und stinkende Gesellschaft wieder etwas in die Schuhe stellt.» «Den Handschlag vermisse ich allerdings etwas.»

Kaspar Schnyder begreift Corona nicht nur als Katastrophe, sondern auch als Chance. Foto: zvg

Share
LATEST NEWS