Den Chor auf eine harte Probe gestellt
Wie sich die Sängerinnen und Sänger der Musik von Michael Wertmüller nähern
Schon seit Ende Oktober versammeln sich Frauen und Männer – ältere und jüngere, erfahrene und weniger geübte – jede Woche, um sich mit den anspruchsvollen Gesängen vertraut zu machen, die der Welttheater-Komponist für sie geschrieben hat. Das ist auch für den Zuhörer zu Beginn nicht ganz einfach.
WALTER KÄLIN
Schon nach einer Minute klopfen sich die Sängerinnen und Sänger auf die Schultern. Lockerungsübungen sind angesagt! Diese sollen nicht nur verspannte Muskeln lösen, sondern auch die beiden Gehirnhälften aktivieren. Die rechte brauche es fürs Singen, die linke für Rhythmus und Text, sagt die Dirigentin Susanne Theiler. Aus Gymnastik wird nur langsam, aber doch allmählich Gesang. Es dauert gut und gern 25 Minuten, geht über das Artikulieren von Vokalen und Konsonanten, rhythmisches Klatschen und Stampfen, die Tonleiter rauf und runter, ganz hoch und ganz tief, bis zu einem Potpourri mit Musik von Haydn, Dvorak, Mozart und Verdi, die sich zum Einsingen eignet. Dann gilt es ernst: Susanne Theiler, die den Chor abwechselnd mit Agnes Ryser dirigiert, möchte hören, was vom «Chor der Welt» seit der letzten Probe haften geblieben ist. Es handelt sich um eines von drei Liedern, die Michael Wertmüller, der zum ersten Mal für das Welttheater komponiert, bis jetzt vorgelegt hat. Und die Vorlage hat es in sich. Es ist schwere Kost, nicht nur für die Mitglieder des Chors, sondern auch für mich als Zuhörer, der sich an das simple «Hosianna » erinnert, das er vor 60 Jahren als Singengel über den Klosterplatz geplärrt hat. Ich habe die Melodie heute noch im Kopf und lese bei Wikipedia, dass «Hosianna» aus dem Hebräischen komme und «Hilf doch!» bedeute. Beim Chor im Untergeschoss des Schulhauses Kornhausstrasse wird nur unablässiges Üben helfen. Es sei denn, Wertmüller habe ein Einsehen und liefere auch noch Melodien, die so einfach sind, dass sie den Sängerinnen und Sängern nach der Probe nachlaufen.
Für das zweite Lied stehen alle auf. Sie sollten es schon fast auswendig können, meint die Dirigentin, auch wenn es überhaupt nicht eingängig ist. Susanne präzisiert zum Takt 17, dass es sich wirklich um die Note «A» handle, woran sie letztes Mal gezweifelt hätten. Sie habe beim Komponisten nachgefragt. Aber ob es ein «A» ist oder doch nicht, mich dünkt, das Schwierigste seien die Pausen, die man singen muss beziehungsweise eben nicht singen darf. Ab und zu sehe ich Frauen, die in die Falle tappen und darüber erschrecken. Den Männern passieren auch Fehler, aber sie lassen sich nichts anmerken. Apropos Geschlechter: Die Tenöre sind, wie die Bässe auch, unterdotiert, sodass noch die eine oder andere tiefer gestimmte Frau bei ihnen aushilft.
Der «Chor der Werktätigen» kommt ganz am Schluss aufs Pult. Und dann passiert es: Je länger ich dem Gesang zuhöre, umso faszinierender finde ich ihn. Und ich stelle mir vor, welche Wirkung er auf das Publikum haben wird. Wenn dann erst noch die Musikerinnen und Musiker dazu kommen, die Klänge aus allen möglichen Sparten beisteuern werden! Wertmüller hat seine Absicht mal so umschrieben: «Klassisch orientierte Chöre, Volksmusik, Rock und Jazz, Avantgarde und Hardcore, Spielarten des Techno und improvisierter Musik, Alphörner und Handorgeln sollen sich in ihren Eigenheiten ausleben und sich nach und nach zu einem grossen, überdimensionierten Gesamtklang formieren.» Das verlangt auf allen Seiten Perfektion, was die Sängerinnen und Sänger natürlich wissen. Und erst recht die beiden Dirigentinnen. Susanne und Agnes führen übrigens Protokoll, damit sie gegenseitig darüber informiert sind, was der Chor schon bewältigt und woran er noch arbeiten muss. «Die hohen Phrasen kann dann Agnes vertiefen», sagt Susanne, «sie singt Sopran, ich bin Altistin.» Und sie stellt mit Freude fest, dass der Chor Durchhaltewille habe («Bravo!») und freut sich auf neues Material Anfang Jahr. Das dürfte wichtig sein für die Motivation und die Lust am Singen. Die Leute wollen die Hürden meistern, sie sind in guter Stimmung. Und niemand schielt zu den beiden Fenstern im Untergeschoss des Schulhauses, die mit «Notausgang » beschriftet sind.
Seit Ende Oktober proben die Sängerinnen und Sänger jede Woche für das Welttheater.
Foto: zvg