«Dem Domkapitel darf die Wahl nicht leicht gemacht werden»
Martin Werlen war der 58. Abt des Klosters Einsiedeln. Mit seinem Buch «Zu spät» provozierte er die Kirche und brachte den Gläubigen Hoffnung. Obwohl als Kandidat für den Churer Bischofsstuhl gehandelt, hat der 57jährige Benediktinermönch keine Angst davor, gewählt zu werden.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Sie wollen das barocke Kloster Einsiedeln durch einen schlichten Neubau ersetzen. Kam Ihre Idee gut an im Klosterdorf? Ich hoffe, dass die Menschen im Klosterdorf nicht nur diese Schlagzeile hörten, sondern das Buch «Zu spät» gelesen haben. Dann wissen sie, dass es nicht um Gebäude geht, sondern um das Zeugnis der Kirche heute. Der Kirche ist eine Botschaft anvertraut, nach der sich alle sehnen. Aber wir bringen es fertig, dieser Botschaft immer wieder selber im Wege zu stehen. Und wir merken es nicht. Glaube ist Leben. Im Hier und Heute. Genau das nehmen die meisten Menschen nicht wahr. Wie kommt bei Ihnen das jetzige Gebäude des Klosters Einsiedeln an?
Ab dem Jahr 1704 wurde der damalige gotische Klosterbau abgerissen, um einem modernen Bau Platz zu machen – der heutigen Klosteranlage. Das war ein starkes Zeichen der Klostergemeinschaft: Nicht rückwärts erhalten, sondern mutig in die Zukunft zu schauen – mit Ideen und Perspektiven. Der Bau ist selbstverständlich geprägt vom Zeitgeist des Barocks – dazu gehört auch der Ausdruck von Macht und Reichtum. Was müsste sich ändern im Kirchenwesen?
Auch wenn die Kirche – Gott sei Dank – nicht mehr mächtig und reich ist, verkünden viele Gebäude immer noch diese Botschaft. Die Kirche muss sich davon verabschieden, will sie heute glaubwürdig das Evangelium verkünden. Dazu ermutigt der evangelische Theologe und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer (19061945) in einem bewegenden Brief aus dem Gefängnis. Ihr Wort in Gottes Ohr. Glauben Sie wirklich, dass die Kirche Ihrem Vorschlag folgen wird? Ja! Es braucht viel Zeit und Geduld, bis diese Weisung auch des Zweiten Vatikanischen Konzils in weiten Kreisen umgesetzt wird. Papst Franziskus versucht, uns alle auf diesen Weg mitzunehmen. Wie wichtig war sein Schritt vom Palast ins Gästehaus! Sein Einsatz für Arme und Flüchtlinge wäre kaum glaubwürdig, wenn er nicht selber dieses starke Zeichen gesetzt hätte. Wir müssen alles daran setzen, dass historische Gebäude durchlässig werden und möglichst nicht der Botschaft des Evangeliums im Wege stehen. Tausende Pilger und Wallfahrer kommen doch jedes Jahr aber eben gerade wegen dieses Klosterbaus nach Einsiedeln. Nein, eben gerade nicht! Die meisten kommen, weil dies ein Gnadenort ist, ein Kraftort. Hier erfahren Menschen, dass einer da ist, der uns liebt. Das zeichnet Einsiedeln seit über tausend Jahren aus. In dieser Zeit standen ganz unterschiedliche Gebäude an diesem Ort. So sind wir auch heute nicht Verwalter eines Denkmalschutzobjektes, sondern Zeugen unseres Glaubens. Natürlich ist das mit einem steten Ringen verbunden. Wie schwierig es nur schon ist, einen Lift im Kloster einzubauen. Oder die passenden Steine bei der Sanierung des Klosterplatzes zu finden. «Zu spät» lautet der Titel Ihres Buches. Ist der Zug für die Kirche bereits abgefahren? Ja. Zu spät sein bedeutet, in der Wüste zu sein. Diesen Erfahrungen muss die Kirche sich stellen. Erst dann wird sie fähig zu hören, was Gott ihr heute sagen will. Es gibt keinen Grund zur Panik, diese entsteht um fünf vor zwölf: Man beginnt zu hetzen und sucht Sündenböcke. Um fünf nach zwölf hingegen hat man nicht mehr alles im Griff. Dadurch gibt es Platz für eine neue Offenheit und für Kreativität. So werden wir plötzlich wieder berührt und entdecken, dass sogar Menschen, die wir sonst übersehen, uns viel zu sagen haben. Das müssen Sie uns näher erklären.
Ich kann Ihnen ein Erlebnis aus meinem Leben schildern: Ich musste auf den Zug in Einsiedeln hetzen, um den Anschluss in Wädenswil nach Salzburg nicht zu verpassen. Jeder Mensch war mir beim Rennen im Weg! Umsonst – ich verpasste den Zug. Erst als der Zug definitiv weg war, begann ich mich wieder für die Menschen zu interessieren. Ich machte schliesslich Autostopp und erreichte den Anschluss in Wädenswil doch noch. Wir müssen aus der Sicherheit und aus den Palästen, in denen wir sind, rauskommen und ganz normal mit den Menschen unterwegs sein. Wie sind Sie auf den Stoff Ihres Werks «Zu spät» gestossen? Durch eine Geschichte in der Heiligen Schrift, nämlich das Buch Jonas. Der Prophet Jonas ist der einzige in dieser Erzählung, der an den Gott Israels glaubt. Und er versagt. Die anderen finden den Weg zu Gott. Jonas ist immer zu spät. Er wird ins Meer geworfen. Er wird von einem grossen Fisch verschlungen. Als Jonas meint, es sei zu spät und alles verloren, spuckt ihn der Fisch wieder hinaus. Diese Geschichte fiel mir ein, als ich nach dem Bersten einer Glas-Duschtüre in einem Hotel das Zimmer in der Nacht verlassen musste. Ich wurde buchstäblich aus dem Zimmer ausgespien wie Jonas aus dem Fisch. Sind Sie selber auch schon ausgespien worden, etwa durch Ihren Unfall beim Badmintonspiel? Immer wieder. Der Unfall hat mich gelehrt loszulassen. Von einem Moment auf den andern kann uns alles genommen werden. Wie grossartig ist in solchen Momenten die Erfahrung, die Rainer Maria Rilke im Gedicht «Herbst» beschreibt: «Und doch ist einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.» In Ihrem Buch beschreiben Sie die Entfremdung der Kirche von den Menschen. Wie nehmen Sie diese wahr? Verantwortungsträger in der Kirche beschäftigen sich sehr oft mit Fragen, die die Menschen nicht mehr beschäftigen, und fehlen dort, wo die Menschen heute Orientierung suchen. Jesus ist nicht mit einem Katechismus auf die Menschen zugegangen, sondern mit offenen Ohren. Er hat ihnen die Augen geöffnet für Gott, der in ihrem Leben da ist. Diesen Weg versuche ich auch im Religionsunterricht zu gehen. Was macht die Kirche denn konkret falsch?
Ich versuche die Antwort positiv zu formulieren: Die Kirche soll den Menschen helfen, Gott dort zu suchen, wo sie sind, und nicht dort, wo sie sein sollten. Sie geht an die Peripherien, dorthin, wo die Menschen sind. So wie das Pfarrer Sieber gemacht hat mit den Drogensüchtigen im Platzspitz und am Letten. Und so wie Papst Franziskus immer wieder irgendwo unerwartet auftaucht: in Heimen, Gefängnissen, bei Familien, in verruchten Kreisen. An Orten wie Einsiedeln suchen Menschen mit ihren biographischen Brüchen und Verwundungen Heilung. Stellen wir uns vor, welch starkes Zeichen es wäre, wenn der neue Bischof von Chur sich nicht mehr im so genannten Hof abschotten würde, sondern sich zu den Menschen hin auf den Weg macht! Die Kirche ändern kann alleine der Papst. Allerdings ist zunehmend ein Scheitern von Franziskus absehbar in Zusammenhang mit der angestrebten Kurienreform.
Wir alle können zu Reformen in der Kirche beitragen. In der Amtszeit von Papst Franziskus hat sich bereits sehr viel bewegt. Es ist faszinierend, die derzeitige Amazonas-Synode mitzuverfolgen, an der neue Wege für die Kirche und eine ganzheitliche Ökologie gesucht werden. Sicher gibt es Menschen, die sich gegen die Dynamik wehren, die Franziskus ausgelöst hat. Damit verbunden ist eine Unsicherheit, wie es weitergehen soll mit der Kirche. Wir leben in bewegten Zeiten.
Sie finden, es sei höchste Zeit, dass die katholische Kirche Frauen zum Priestertum zulassen soll. Wieso tut sich die Kirche so schwer mit diesem Schritt? Das ist in der Synode auch Thema. Es darf offen darüber gesprochen werden, was unter den Vorgängern von Papst Franziskus noch nicht möglich war. Wir entdecken die Rolle der Frau in der Heiligen Schrift heute ganz neu. Der Auferstandene erschien zuerst Frauen. Das ist bis heute unerhört – im doppelten Sinn des Wortes. Erst seit drei Jahren feiern wir auf Anweisung von Papst Franziskus Maria Magdalena als Apostelin der Apostel. Über viele Jahrhunderte hinweg wurden die Frauen vergessen oder abschätzig beurteilt, einfach weil es dem Zeitgeist entsprach. Hier braucht es auch in der Kirche noch viel «Entweltlichung », um ein Wort von Benedikt XVI. zu gebrauchen. Können Sie abschätzen, was langfristig mit dieser Kirche geschehen wird, wenn Frauen weiterhin aussen vor bleiben? Tragen wir alle dazu bei, dass wir das Geschenk der Taufe neu entdecken, dann wird sich das schnell ändern! Ich bin dankbar, dass sich dafür unsere Mitschwestern im Kloster Fahr zusammen mit Priorin Irene einsetzen. Ihr Engagement ist – Gott sei Dank! – auch in der Amazonassynode angekommen. Der Zölibat ist im Gegensatz zur Frauenfrage definitiv kein biblisches Dogma. Wann rechnen Sie damit, dass der Zölibat fallen gelassen wird? Wir können als Verheiratete und als Zölibatäre Christus verkünden. Auch in der katholischen Kirche haben wir verheiratete Priester – was viele nicht wissen. Im Kirchenrecht für die Katholiken im byzantinischen Ritus ist dies vorgesehen – unterschrieben von Papst Johannes Paul II. Die Verbindung von Zölibat und Priesteramt muss offensichtlich nicht sein und war es auch im lateinischen Ritus lange nicht. Über eine Änderung wird zurzeit in der Amazonas- Synode gerungen – zum Ärger traditionalistischer Kreise. Verstehen Sie den Umstand, dass Schwule nicht gesegnet werden dürfen in der Kirche? Selbstverständlich dürfen homosexuelle Menschen gesegnet werden. Es gibt Leute, die Angst haben, dass das mit dem Ehesakrament verwechselt werden könnte. Wer so denkt, hat gewiss nicht ein katholisches Verständnis der Ehe … Es ist offensichtlich, dass einige Verantwortungsträger regelrecht besessen sind vom Denken über Homosexualität. Macht die katholische Kirche nicht einfach deswegen ein Ding mit der Homosexualität, weil viele Priester und Bischöfe schwul sind? Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Mich interessiert es nicht, wer heterosexuell und wer homosexuell ist. Mich interessiert, dass wir uns ernsthaft bemühen, unsere Berufung zu leben – ob in Partnerschaft oder als zölibatär Lebende. Das Problem ist, wenn Menschen mit ihrer Sexualität nicht versöhnt sind und sie deswegen verdrängen oder im Geheimen ausleben müssen. Frédéric Martel schreibt darüber in seinem Buch «Sodoma». Wenn die Sexualität nicht integriert ist, kann das sehr wohl katastrophale homophobe Haltungen zur Folge haben: Nach aussen bekämpfen, was im eigenen Inneren zutiefst abgelehnt wird. Können Sie abschätzen, wie die Aufarbeitung bezüglich sexuellem Missbrauch in der Kirche über die Bühne geht? Die Situation ist in den verschiedenen Weltregionen ganz verschieden. Es gibt gewiss keine Bischofskonferenz mehr, die behauptet, dass es das Problem bei ihnen nicht gibt. Das war noch bis vor kurzem anders. Eine Anzeige gegen einen Pfarrer war früher unvorstellbar. Immer weniger können sich Täter in Sicherheit wägen. Immer weniger müssen Opfer Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird. Immer mehr haben Übergriffe konkrete Folgen. Die Wunden, die ein Opfer durch sexuelle Übergriffe erleidet, können diese Menschen das ganze Leben lang schwer belasten. Sie müssen in der Mitte der Aufmerksamkeit bleiben. Daran muss in der Schweiz und weltweit weitergearbeitet werden. Im Bistum Chur wird demnächst ein neuer Bischof gewählt. Was wäre das Schlimmste, was eintreten könnte?
Überaus schlecht wäre es, wenn Rom nicht in der Lage wäre, eine Liste zu erstellen, auf der drei hervorragende Namen darauf stehen – Männer voll Glaubens und darum beim Menschen heute. Hier steht Rom vor einer sehr schwierigen Situation. Dem Domkapitel darf die Wahl nicht leicht gemacht werden. Wenn es dem Domkapitel leicht fallen würde, eine Wahl zu treffen, hätte Rom versagt. Es würde dann mehr oder weniger weitergehen wie bisher. Die Folgen für das Bistum Chur, die Kirche in der Schweiz und weit darüber hinaus wären unabsehbar. Würden Sie für das Bischofsamt zur Verfügung stehen? Dass ich zum Bischof gewählt werden könnte, davor habe ich nun wirklich keine Angst (lacht). Wir können das Spiel ruhig durchspielen: Was für zwei andere Kandidaten müssten dann wohl auf der Dreierliste sein, dass das Domkapitel in der jetzigen Zusammensetzung mich wählen würde? Wenn Sie nolens volens trotzdem gewählt werden: Würden Sie die Wahl annehmen? Wir können hoffen, dass der Gewählte die Wahl annimmt. Ansonsten wäre die Diözese wiederum für längere Zeit in einer schwierigen Situation. Wo sehen Sie noch Hoffnung, obwohl doch offensichtlich alles zu spät ist? Unsere Hoffnung liegt darin, miteinander zu hören, was Gott uns heute sagen will, und das zu tun. Kirchenverantwortliche, die meinen, es sei fünf vor zwölf, investieren alle Energie darin, Altes zu bewahren und noch möglichst fest zu vermauern. Darum macht ihnen die Amazonas-Synode so grosse Angst. Fünf nach zwölf schenkt Gelassenheit. Die Kirche soll wieder als Gemeinschaft der Hoffnung wahrgenommen werden, in der Menschen aufatmen können und nicht zuerst verurteilt werden. Alten Ballast loslassen, um die Freude, die Dynamik und die Kraft des Evangeliums neu erfahren zu können.
Alt Abt Martin Werlen ist Novizenmeister im Kloster Einsiedeln und gibt Religionsunterricht an der Stiftsschule. Foto: Magnus Leibundgut