«Die Zukunft der Kirche steht nicht auf dem Spiel»
Am Samstag geht der Zukunftstag der reformierten Kirchgemeinde in Einsiedeln über die Bühne. Die Kirchgemeinderäte Sarah Feil und Stefan Bürgis stehen Red und Antwort über die Entwicklung der Gemeinde.
Wie haben Sie zum christlichen Glauben gefunden? Stefan Bürgis: Als ich acht Jahre war, bin ich der Cevi beigetreten: Ich verdanke dieser christ-lichen Jugendbewegung zu einem grossen Teil den Zugang zum christlichen Glauben. Via Cevi bin ich dann ganz organisch in die Jugendarbeit der reformierten Kirchgemeinde in Weiningen hineingewachsen. Vor 14 Jahren bin ich nach Einsiedeln gezogen und seit fünf Jahren Mitglied im Kirchgemeinderat.
Sarah Feil: Ich bin in der Gegend um Bonn im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und wurde von meinen Grosseltern zum christlichen Glauben geführt. Geprägt hat mich dann auch der Konfirmanden- Unterricht und später die Mitarbeit im Kindergottesdienst und der kirchlichen- und Jugendarbeit. Ich fühlte mich schon früh stark von der Arbeit, die in einer Kirchgemeinde geleistet wird, angezogen.
Früher fand die religiöse Sozialisation in der Familie statt. Welche Rolle spielt der Umstand, dass Eltern heutzutage den Glauben kaum mehr an ihre Kinder weitertragen? Sarah Feil: Ich persönlich finde es wichtig, dass die Eltern den Glauben an ihre Kinder weitergeben. Nur wie soll das geschehen, wenn viele Eltern heutzutage selber kaum persönliche Erfahrungen mit der Religion gemacht haben? Die heutige Elterngeneration ist bereits sehr kirchenfern. Meine Eltern sind christlich aufgewachsen und haben sich als Erwachsene bewusst dagegen entschieden, ihre Kinder christlich zu erziehen. Ich bin froh, dass dann eben meine Grosseltern diese Lücke ausgefüllt haben.
Stefan Bürgis: Meine Eltern sind auch nicht ausserordentlich gläubig, aber sie haben mich immerhin in die Sonntagsschule geschickt (lacht). Bei mir war es viel mehr der Kollegenkreis, durch den ich mit dem christlichen Gedankenkreis in Kontakt gekommen bin. Für ältere Generationen war die Religion noch selbstverständlich, und man hat sich nie gross Gedanken darüber gemacht, weil es einfach dazugehörte. Die Jungen heute müssen sich hingegen aktiv dafür oder dagegen entscheiden.
Wie sind Sie in Ihrer Jugend in die kirchliche Arbeit hineingewachsen?
Stefan Bürgis: Mitarbeiter der Kirchgemeinde haben sich auf die Suche nach Freiwilligen gemacht, die gerne einen Einsatz für die Gemeinde leisten wollen. So bin ich in die Kirchenarbeit hineingeraten – und das nicht nur am Rande: Ich habe diese Arbeit als überaus sinnstiftend wahrgenommen und bis zu 25 Stunden pro Woche Freiwilligenarbeit geleistet. Ich habe viel Zeit mit Kirchenarbeit verbracht – und habe dies nie im Geringsten bereut.
Sarah Feil: In der Gemeinde, in der ich konfirmiert worden bin, wurde ich mit anderen aus meiner Gruppe schon im Konfirmationsunterricht angesprochen, ob ich Lust hätte, im Kindergottesdienst- Team mitzuarbeiten. Später kamen dann andere Bereiche der Kinder- und Jugendarbeit dazu. Aber schon bei meinen Grosseltern habe ich Kirchgemeinde immer als etwas erlebt, wo man «mitmacht», deshalb war es für mich auch irgendwie klar.
Was motiviert Sie, im Kirchgemeinderat mitzuwirken? Sarah Feil: Ich möchte gerne aktiv mitmachen in der Gemeinde, gerade im Wissen darum, dass sich in Zeiten des Individualismus in der Gesellschaft immer weniger Leute engagieren: Das «Wir» soll im Vordergrund stehen. Die Kirche ist für mich ein vertrauter Ort, an dem ich schätze, dass dort eine christliche Gemeinschaft gelebt wird. Gerade in dieser Zeit, in der sonst alles unklar und im Wandel ist, kann die Gemeinde Halt und Orientierung geben.
Stefan Bürgis: Ich wollte neben der Jugendarbeit auch einmal etwas anderes machen – und die Arbeit im Kirchgemeinderat muss schliesslich auch erledigt werden. Ich engagiere mich auch noch im Besuchs- und Begleitdienst Einsiedeln und bin da immer wieder konfrontiert mit der sozialen Kälte in unserer Gesellschaft: Die Kirche unterstützt gleichsam vereinsamte und isolierte Menschen. Viele Leute setzen die Kirche schlicht mit dem Besuch des Sonntagsgottesdiensts gleich – doch die Kirche ist vieles mehr als das.
Wie ist es um die Diversität in der reformierten Kirchgemeinde in Einsiedeln bestellt? Sarah Feil: Wir beide sind recht gute Stellvertreter für die Diversität unserer Gemeinde: Ich selbst bin Deutsche und lebe in einer Partnerschaft mit einer Frau. Hinzu kommt, dass wir beide keine Ureinsiedler sind und als Zugezogene die Vielfalt der Gemeinde verstärken. Ich habe den Eindruck: Hier ist jeder und jede willkommen. Aus anfänglicher Hilfe für ukrainische Geflüchtete ha-ben sich mittlerweile etliche Gemeinschaftserlebnisse entwickelt, und das gemeinsame Friedensgebet am Mittwochabend ist gelebte Ökumene.
Welchen Umgang pflegt die reformierte Kirche mit der Homosexualität ihrer Mitglieder? Sarah Feil: Die Reformierten sind im Vorteil dahingehend, dass es bei ihnen die Kirche so gar nicht gibt, die von oben herab nach unten regiert. Es gibt also kein Dogma der Kirche, das den Umgang mit Homosexuellen vorschreibt. Jede Kirchgemeinde ist ein «Reich» für sich und bestimmt die Richtlinien des Gemeindelebens in grossen Teilen selbst. Das schliesst Vorbehalte gegenüber Lebensentwürfen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, natürlich nicht aus. Ich habe jedenfalls in Einsiedeln keinerlei Anfeindungen erlebt aufgrund meiner sexuellen Orientierung, kann aber nicht ausschliessen, dass es zum Beispiel in einer anderen Gemeinde solche geben könnte. Eine Kirchgemeinde ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft.
Stefan Bürgis: Bei den Reformierten gibt es auch keinerlei Schwierigkeiten, eine Mischehe einzugehen: Meine Frau ist Katholikin, und wir haben uns ökumenisch trauen lassen. Es gibt in unserer Gemeinde eine ganze Reihe von Mischehen, und es ist hierbei noch nie ein Problem aufgetaucht. Allerhöchstens in dem Sinne, dass die Katholiken in Einsiedeln wenig über die Reformierten wissen (lacht).
Die Landeskirchen gelten als überaltert. Wie sieht es bei Ihrer Kirchgemeinde in Sachen Nachwuchs aus? Sarah Feil: Wir können uns nicht über mangelnden Nachwuchs beklagen. Was allerdings ins Gewicht fällt, ist, dass es im Moment eher die Älteren sind, die sich aktiv am Gemeindeleben beteiligen.
Oftmals entfernen sich die Jugendlichen nach der Firmung beziehungsweise nach der Konfirmation von der Kirche. Was unternehmen Sie, um junge Erwachsene im Boot zu behalten? Stefan Bürgis: Indem wir einen Zukunftstag organisieren, der sich just auch damit beschäftigt, wie wir junge Erwachsene im Boot behalten können. Am Zukunftstag werden Fragen gestellt: Was freut mich? Was gefällt mir? Was sind meine High-lights? Was ärgert mich? Was gefällt mir nicht? Was möchte ich unbedingt einmal loswerden? Zu diskutieren wäre, wie wir einen Bezug zu den Jungen herstellen können, auf dass diese für das Gemeindeleben nicht verloren gehen. Zum Teil gibt es bereits Formen wie der Hauskreis oder der Bibelkreis oder das Gebet, in denen Junge mitmachen.
Sarah Feil: Kaum lösbar ist hingegen das Problem, dass sich Jugendliche oder junge Erwachsene räumlich von der Kirchgemeinde entfernen, indem sie nach der Lehre oder wegen des Studiums von Einsiedeln in eine andere Gemeinde wegziehen.
Welche Rolle spielt die Spiritualität in Ihrer Gemeinde? Wie holen Sie die Leute ab, die auf der Suche nach Spiritualität sind? Stefan Bürgis: Es gibt bei uns die «Schritte in die Stille – Duft Qi Gong und meditatives Gebet/ Kontemplation»: Es liegt viel Kraft darin, sich Zeiten der Stille zu gönnen, auch wenn es nur eine Stunde im geschäftigen Alltag ist. Viele Menschen haben im schweigenden Sitzen eine Insel des Friedens und eine Quelle der Kraft gefunden. Offensichtlich entsprechen die «Schritte in die Stille» einem grossen Bedürfnis der Menschen: Das meditative Gebet wird rege besucht. Allerdings ist während der Corona-Pandemie einiges weggebrochen: Geblieben ist bei manchen seit die-ser Zeit eine Angst vor sozialen Kontakten.
Sarah Feil: Spiritualität bedeutet für jeden etwas anderes. Es gibt Leute, die in einem traditionellen Gottesdienst Spiritualität finden. Sicherlich werden am Zukunftstag auch spezielle Gottesdienste und die Musikwahl ein Thema sein müssen.
Wie ist es um die Zukunft der reformierten Kirchgemeinde in Einsiedeln bestellt? Sarah Feil: Wir müssen uns die Frage stellen, was wir in der Zukunft anbieten wollen – und was wir anbieten können: Es macht keinen Sinn, viele neue Angebote zu schaffen, die wir dann gar nicht zu stemmen in der Lage sind. Vielmehr geht es darum, das zu integrieren, was bereits da ist. Sicherlich wird es in der Zukunft schwierig werden, längerfristig ausreichend Leute für ein Ehrenamt zu finden. Vielleicht kommt die Zeit, in der mehr Ad-hoc-Projekte in den Fokus rücken.
Was erhoffen Sie sich vom Zukunftstag?
Sarah Feil: Dass Menschen kommen … Als Gemeinde die Gegenwart zu meistern und die Zukunft zu gestalten, geht nur gemeinsam – mit den Mitgliedern der Kirchgemeinde. Deshalb laden wir sie ein, miteinander die Weichen zu stellen. Schliesslich geht es darum, einen Blick in die Zukunft zu werfen: Was wäre meine Wunderkirche? Welche konkreten Schritte müssten unternommen werden, um Träume und Utopien umsetzen zu können?
Stefan Bürgis: Der Zukunftstag soll als Türöffner für Neuzuzüger und für Leute, die sich bis-her eher wenig am Gemeindeleben beteiligt haben, dienen.
Welche Massnahmen haben Sie bereits umgesetzt, welche sind geplant? Stefan Bürgis: Wir haben Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit alternativen Gottesdienstformen, mit dem Medienauftritt der Kirchgemeinde und der Frage auseinandersetzen, wie frische Leute in die Gemeinde geholt werden können.
Sarah Feil: Ich würde mir wünschen, dass wir zukünftig auch die Berufstätigen vermehrt ins Boot holen, indem Anlässe und Angebote auch abends oder am Wochenende stattfinden können.
Steht die Zukunft der Kirche auf dem Spiel? Sarah Feil: Ich glaube, die Zukunft der Kirche steht nicht auf dem Spiel. Wobei sich die Frage stellt: Was ist die Kirche? Sagen wir es so: Der christliche Glauben ist nicht in Gefahr. Aber vielleicht wird Kirche anders sein, als wir uns das heute vorstellen können.
Stefan Bürgis: Die Kirche an sich ist nicht in Gefahr. Sie sollte allerdings mutiger auftreten, sich öffnen und sich zu Wort mel-den, wenn es um den Krieg gegen die Ukraine geht: Ich vermisse seitens der Kirche ein Einstehen für den Frieden und für Lösungen in diesem Konflikt. Die Kirche muss endlich hinstehen und sich für die Werte einsetzen, die vollends bedroht sind hier auf Erden.