Verstaubte Perlen
BRIEF AUS DEN USA
Ich wuchs mit Bildern von Ronald Reagan an unserem klotzigen Fernseher auf. Als Kind wusste ich, dass Reagan der Präsident von Amerika ist und vorher Schauspieler war. Später hörte ich von H.W. Bush. Bill Clinton unterschrieb im Jahr 1995 mein «Diplom der amerikanischen Allgemeinbildung ». Dieses Diplom machte ich aus Langeweile während meines Aufenthaltes als Aupair ausserhalb von Washington D.C. Damals war ich fast stolzer auf die Unterschrift des amerikanischen Präsidenten als auf das Diplom selbst.
Als ich mehr als zehn Jahre später in die USA auswanderte, war Bushs Sohn George im Amt. Er war in der Schweiz unbeliebt und einige Leute in meinem Bekanntenkreis kratzten sich am Kopf: weshalb ich denn in ein Land mit so einem Präsidenten auswandern wolle?
Die Wahl von Obama im November 2008 beobachtete ich als Zuschauerin. Ich wurde am 31. Oktober 2012 offiziell amerikanische Staatsbürgerin und meine erste Frage war, ob ich sechs Tage später an der Wiederwahl von Obama teilnehmen könne. Dafür war es zu spät. Vier Jahre später konnte ich endlich wählen und miterleben, wie Trump ohne politische Erfahrung die Wahl gewann. Vor fast vier Jahren gewannen dann Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris die Wahl. Da ich in der Ära der ersten weiblichen Bundesrätin Elisabeth Kopp aufwuchs, hatte ich genau wie viele andere Frauen grosse Hoffnung auf Harris. Am Tag der Einschwörung trug ich genau wie viele andere Frauen (und Kamala selbst) eine Perlenkette. Tags darauf verschwand meine Perlenkette in der Schmucktruhe, um dort zu verstauben. Und fast genauso schnell verstaubten die Medienmeldungen über Kamala. Sie rutschte zusammen mit meiner Perlenkette in den Hintergrund und fast in die Vergessenheit.
Nach den vergangenen turbulenten Wochen am amerikanischen Politikhimmel tritt nun Kamala plötzlich, wenn auch nicht ganz überraschend, wieder in den Vordergrund. Ob ich meine Perlenkette am 6. November dieses Jahres wieder aus der Schmucktruhe ziehen werde, ist unklar. Klar ist, dass dieses Wahljahr spannend und historisch wichtig ist.Aber das sage ich seit 2008 alle vier Jahre. Kamalas Perlen sind ein Symbol für die Verbundenheit zu ihrer Studentenvereinigung und die Solidarität unter den Mitgliedern, aber auch unter den afrikanischen Amerikanern und unter Frauen allgemein. Perlen symbolisieren aber auch Weisheit und Verfeinerung oder Verbesserung. Und alle vier Jahre hofft die ganze Welt, dass der gewählte amerikanische Präsident (oder die gewählte Präsidentin) mit Weisheit Verbesserungen anstreben wird.
Regula Grenier-Flückiger * Die Einsiedlerin Regula Grenier- Flückiger (*1973) zügelte im Jahr 2007 nach Denver im amerikanischen Bundesstaat Colorado, am Fusse der Rocky Mountains. Seit dem Jahr 2011 wohnt sie im Nachbarort Thorn-ton. Dort kamen im Jahr 2011 Sohn Cody Frederick und im Jahr 2015 Tochter Stephanie Nova zur Welt.