BRIEF AUS OSTTIMOR Bitte friss ….


BRIEF AUS OSTTIMOR
Bitte friss mich nicht, ich bin mit dir verwandt
Was für Einsiedeln die beiden Raben sind, sind für Osttimor Krokodile. Diese kommen nicht nur in Timors Gründungsgeschichte und Geografie vor, sondern prägen bis heute Alltag, Kultur und Glauben.
Tatsächlich braucht es nur wenig Fantasie, um das Krokodil in Osttimors Landschaft zu erkennen: Nach den Küsten auf Meereshöhe steigt das Land schnell und steil an bis zum höchsten Punkt auf 2986 Meter über Meer. Von dort oben erkennt man in den Hügelketten den Rücken des Krokodils. Der Kopf ist in der Hauptstadt verortet.
In einigen Gemeinschaften gilt es gar als Segen, wenn ein Ahne oder eine Ahnin in Gestalt eines Krokodils das Dorf besucht. Da es als heilig gilt (Sie erinnern sich: lulik!), wird es in Ruhe gelassen. Tief im Bewusstsein der Timoresen und Timoresinnen verankert, ist die Überzeugung, dass Krokodile nur unheilige, böse Menschen angreifen oder fressen. Daher melden Familienund Dorfgemeinschaften Krokodilattacken kaum offiziell. Die Scham, dass sie eine unheilige Person in den eigenen Reihen haben, ist schlichtweg zu gross. Die Anzahl an tödlichen Zwischenfällen mit Salzwasserkrokodilen vor allem an der Südküste hat in den letzten Jahren zugenommen.
Zwei Theorien versuchen das Phänomen zu erklären. Einerseits wurde der Krokodilbestand in Osttimor durch die verschiedenen Besatzungsmächte kontrolliert. Im Anschluss an die Unabhängigkeit 2002 hat das Land Gesetze zum Schutz der Krokodile verabschiedet. Andererseits können Schutzprogramme für Krokodile im Norden Australiens dazu geführt haben, dass die Tiere auf der Suche nach Nahrung nach Osttimor über das Meer migriert sind.
Für viele timoresische Familien in den Küstengebieten ist der Fischfang überlebenswichtig. Ihnen bleibt nichts anderes, als mit Holzbooten in den Gewässern rund um die Küsten zu fischen und zu hoffen, dass ihnen ihre tierischen Verwandten wohlgesinnt sein mögen.
Persönlich bin ich Krokodilen glücklicherweise erst auf Logos verschiedener Firmen oder als hölzernes Souvenir begegnet. Wie ich mich im Fall einer unliebsamen Begegnung in freier Natur verhalten sollte, habe ich, wie viele andere Expats hier, sicherheitshalber natürlich auch schon gegoogelt.
* Die Einsiedlerin Junia Landtwing (*1995) ist ab Mitte März 2023 während zwölf Monaten bei der Weltbank in Dili, Osttimor, stationiert. Dabei ist sie in Entwicklungs- und Aufbauprojekte in den Bereichen Gesundheit und Bildung involviert. Von ihrer Arbeit, ihren Erfahrungen und Erlebnissen berichtet sie hier in mehr oder weniger regelmässigen Abständen.