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Halbverlust

Als es auf dem verschneiten Waldweg schliesslich doch zu kalt wurde, wollte ich sie anziehen, meine wollenen Handschuhe. Und genau da merkte ich es: Ich fand, auch nach Abklopfen sämtlicher Taschen, nur noch meinen linken Handschuh. Der rechte musste mir auf dem Weg irgendwo aus der Jackentasche gefallen sein.

Das treue Paar hatte mich jahrelang auf meinen Winterspaziergängen begleitet. Die sorgfältig gestrickten, grauen Fingerlinge hatten sich im Laufe der Jahre auch ihrerseits den Formen meiner Hände angepasst, sodass von einem harmonischen Miteinander gesprochen werden darf. Dieses Miteinander war nun ungewollt und plötzlich zusammengebrochen. Da ich grundsätzlich symmetrisch friere, bin ich grundsätzlich auf zwei Handschuhe angewiesen. Denn kein linker Handschuh kann an der rechten Hand angezogen werden, was umgekehrt ebenfalls gilt. Insofern ist ein Handschuh allein nicht einfach die Hälfte eines vollständigen Paares. Ein Handschuh allein ist praktisch dasselbe wie kein Handschuh.

Mir blieb nichts anderes übrig, als die klammen Hände in die Jackentaschen zu stecken. Das half zwar gegen die Kälte, war aber optisch weit von der Eleganz entfernt, welche mein schwungvoller Wanderschritt mit Handschuhen vermittelt. Ich war deshalb sehr froh, als ich auf dem Rückweg den verlorenen Handschuh wiederfand: Eine (auch wandernde) gute Seele hatte ihn sorgfältig auf eine rote Schneestange aufgesteckt. Klärli und ich möchten der guten Seele dafür erleichtert unseren symmetrischen Dank aussprechen.

* Ernst Friedli, 64, seit 31 Jahren verheiratet mit Klärli, geborene Schönbächler. Nichtraucher und Sachbearbeiter im Rathaus, steht unter Amtsgeheimnis. Macht sich in der Freizeit Gedanken zur Weltlage und hat gern allseits warm.

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