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Einsiedeln und seine Viertel 2038

Einsiedeln und seine Viertel 2038 Einsiedeln und seine Viertel 2038

SEITENBLICK: FUTURE CITIES

GERHARD SCHMITT

Anmerkung der Redaktion: Auf Anregung des Autors hat der Einsiedler Anzeiger die drei QR-Codes übernommen. Sie leiten die Leser und Leserinnen an zusätzliche Informationen weiter.

* Einsiedeln und seine Viertel 2038: Die glücklichen Einwohnerinnen und Einwohner haben genügend Arbeit und Freizeit, leben in attraktiven und bezahlbaren Wohnungen, die Kultur floriert, sie exportieren saubere Energie im Überfluss, sie ernähren sich von gesunden Produkten aus der Region, sie verfügen über perfekte und emissionsfreie private und öffentliche Mobilität. Eine Vision, keine Illusion, sondern das Ergebnis der Richtplanung für den Bezirk Einsiedeln, die 2022 begann.

Doch was ist Richtplanung? Das Wort besteht aus zwei Teilen: «Richt» bedeutet die Richtung, in die sich ein Lebensraum entwickeln soll; «Planung» für den Prozess, die Zukunft für die nächsten 10 bis 20 Jahre zu gestalten. Es ist eine der wichtigsten Planungsarbeiten für jede Siedlung, Stadt und Region und vor allem eine Riesenchance.

Pläne sind Abstraktionen

Aus Planung entstehen Pläne: Wohnungspläne, Hauspläne, Quartierpläne, Stadtpläne. Sie erscheinen zweidimensional und geben einen guten Überblick darüber, wie die bestehende Wirklichkeit aussehen könnte. Pläne, wie auch Richtpläne, erreichen dies durch eine Reduktion auf das Wesentliche, durch Abstraktion. Denn kaum stehen wir in der eingerichteten Wohnung, vor dem gebauten Haus, im lebendigen Quartier oder in der lauten Stadt, erleben wir die Realität, die anders ist als das, was die Pläne zeigen.

Die Realität weist mehr Dimensionen auf, als wir auf den Plänen sehen oder mit anderen Sinnen erfahren können: Wahrnehmungen wie Licht, Farben, Materialien, Bewegung, Gerüche, Vegetation, Zeit, Verkehr, Temperatur und Luftbewegung kommen dazu. In ihrer Gesamtheit bestimmen die Wahrnehmungen den Charakter und die Qualität der realen Umgebung. Trotzdem, oder gerade wegen ihrer Konzentration auf das Wesentliche und Übergeordnete, erlauben Pläne Blicke in die Zukunft.

Blicke in die Zukunft Die Richtplanung für den Bezirk Einsiedeln mit einer Fläche von 110 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von mehr als 16’100 Menschen wird Anforderungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik an die Entwicklung von Siedlungsgebiet, Wohnraum, Arbeitsplätzen, Verkehr, Natur und freier Landschaft, Ruhe und Lebensqualität berücksichtigen. Diese Richtplanung kann und wird unsere Zukunft mitbestimmen.

Ein Beispiel zum Vergleich: Singapur, flächenmässig weniger als siebenmal grösser als der Bezirk Einsiedeln, aber mit der 340-fachen Bevölkerung, erarbeitet kontinuierlich einen Langfrist-Plan, der 50 Jahre in die Zukunft reicht. Der erste entstand in den früheren siebziger Jahren, als der Inselstaat ums Überleben kämpfte und die Schweiz zum grossen Vorbild wurde. Der aus dem Langfrist- Plan abgeleitete Masterplan, der konkrete Schritte für die Entwicklung des Inselstaats festlegt, entspricht unserer hiesigen Richtplanung.

Mitgestaltung Die Entwicklung von Vorstellungen für unseren künftigen Lebensraum geht alle an. Der Bezirksrat hatte uns deshalb dazu aufgerufen, die Zukunft von Einsiedeln mitzugestalten und dafür bis Ende 2022 eine Online-Umfrage aufgeschaltet. Echte Mitgestaltung ist ein demokratischer, interaktiver und komplexer Prozess. Sie ist mehr als Faktensammlung, Information, Big Data, Maschinenlernen und Künstliche Intelligenz. Denn langfristige Ziele, Interessen und individuelle Bedürfnisse stehen im Wettstreit.

Die Kunst der Mitgestaltung in der Planung besteht darin, als Resultat nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner zu akzeptieren, sondern aus den Visionen und Anforderungen aller Beteiligten mehr als die Summe der Teile entstehen zu las-sen und motivierende Zukunfts-Szenarien zu schaffen.

Planung in der Realität Das Verfahren bis zur Verabschiedung der kommunalen Richtplanung des Bezirks Einsiedeln wird sich bis 2025 erstrecken. Übergeordnet sind der seit 2017 gültige Richtplan des Kantons Schwyz und auf Bundesebene das Raumplanungsgesetz, dessen Revision das Schweizer Stimmvolk 2013 angenommen hat. Es lohnt sich bei der Entwicklung der Richtplanung sehr, neben den Interessen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auch die Forschung und wissenschaftliche Erkenntnisse zu Wort kommen zu las-sen. Die Wissenschaft hat den Klimawandel, den wir jetzt auch lokal massiv spüren, seit Jahren vorausgesagt und sie gibt mit ihren Forschungsergebnissen Hinweise auf Lösungen für künftige Entwicklungen in der Gesundheitstechnologie, der Landwirtschaft, der Mobilität, der Verdichtung, im Verhalten und für das Zusammenleben in der Gesellschaft. So kann sie helfen, statt durch Verbote und Gesetze mehr mit klugen Anreizen zu arbeiten. Die Ergebnisse der Forschung müssen in die Richtplanung einfliessen. Neue Planungsmethoden und Instrumente helfen dabei.

Neue Planungsinstrumente

Mit der Richtplanung starten wir auf dem Boden der Tatsachen und können in die Zukunft denken. Das wichtigste Planungsinstrument bleibt die direkte Kommunikation. Doch mehr als jemals zuvor kann sich die Bevölkerung unter Nutzung der Digitalisierung direkt beteiligen und einbringen. Dazu tragen aussagekräftige Visualisierungen und vor allem Simulationen bei, die uns Einsiedeln in der Zukunft zeigen. Ein Vorgeschmack ist die Art, wie das «Future Cities Laboratory Global» in Singapur und Zürich Software für die Planung entwickelt, die für die Richtplanung wichtig wird.

Planung ist Freiheit Planungsfreiheit ist ein Grundpfeiler der Demokratie. Sie ist hochmotivierend, denn sie lässt uns unsere Zukunft selbst gestalten und bestimmen. Sie ist herausfordernd, denn es geht dabei nicht um eine diktatorische Festlegung von unverrückbaren Zielen, sondern um das aufeinander Abstimmen von Menschen, ihren Ideen und Rahmenbedingungen. Deshalb ist die Richtplanung so wichtig: Sie ist weit mehr als ein zweidimensionaler Plan, sie ist ein flexibler Zukunftsplan für unser Leben in zwei bis drei Jahrzehnten. Sie nimmt die grossen Fragen und Ideen unserer Gesellschaft auf, sie beinhaltet Utopien und Ideale.

Haben wir keine Angst vor kreativen und vor allem positiven Plänen, sie helfen uns, die immer auftretenden Schwierigkeiten zu umgehen,Alternativen zu entwickeln und Sachzwänge zu überwinden. In den kommenden Seitenblicken zu den Themen Planungsfreiheit, Energiefreiheit, Ernährungsfreiheit und Bewegungsfreiheit werden Verantwortliche zu Wort kommen, beginnend mit Bezirksrat Hanspeter Egli.

[…] mehr als die Summe der Teile entstehen zu lassen.»

Gerhard Schmitt, Professor Emeritus für Informationsarchitektur, ETH Zürich, wohnhaft in Egg. Gründungsdirektor des Singapore-ETH Centre. Einsatz von Simulation und Künstlicher Intelligenz im Future Cities Laboratory auf urbanen und territorialen Massstab in Europa, Afrika und Asien. Studien in München, Los Angeles und Berkeley. 1994 bis 1996 Vorsteher der Architekturabteilung der ETH Zürich. Zuvor Associate Professor an der Carnegie- Mellon-University und Gastprofessor an der Harvard University. 1998–2008 Vizepräsident der ETH Zürich für Planung und Logistik. Initiator des virtuellen Campus ETH World und des Science City Campus der ETH Zürich, wofür er 2010 den europäischen Wissenschafts-Kulturpreis erhielt.

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