Die Sinnlichkeit des Teigens
Fotograf Martin Linsi braucht keine Waage zum Brotbacken
Seine ersten eigenen Brote hat Martin Linsi als Student in England gebacken, weil er das gute Schweizer Brot vermisste. Aus der Not ist eine liebgewonnene Tradition geworden. Er buk als Familienvater das Brot für seine fünfköpfige Familie, heute backt er vor allem für sich selbst.
GINA GRABER
Backen ist keine exakte Wissenschaft. Das wird einem bewusst, wenn man Martin Linsi beim Brotbacken zuschaut: «Ich passe die Mehlmenge der Feuchtigkeit des Teiges an», antwortet der Fotograf und Hobbybäcker auf die Frage nach seinem Brotrezept. Sein Ziel ist es, einfach ein möglichst gutes Brot zustande zu bringen. Dies gelingt ihm dank jahrzehntelanger Erfahrung, ohne dass er die Zutaten abwägen muss, eine Waage gehört nicht zu seinen Backutensilien. Die Küche erzählt Geschichten
Martin Linsis Küche ist einfach, zweckmässig und liebevoll eingerichtet, die Möbel und Gegenstände erzählen Geschichten aus seinem Leben. Unter dem kleinen Kronleuchter der Grossmutter stehen zwei verschieden hohe Tischchen, die als Arbeitsplatz und Anrichte dienen. Die abgewetzte Holzkelle ist ein Andenken an die Mutter und das Wandgestell ist aus Kistchen zusammengebaut, die Martin Linsis drei Kindern früher als Spielzeugboxen dienten.
Martin Linsi mischt für sein Brot Mehlsorten, wie es ihm gerade beliebt, für sein Vier-Korn-Brot stehen dunkles Urdinkel-, Gersten- und Roggenmehl aus der Grotzenmühle bereit, sowie eingeweichter Haferschrot. Aber ganz am Anfang der Teigzubereitung steht der Vorteig, der am Vortag angesetzt werden muss (Zubereitung siehe Rezept). Für diesen Vorteig, auch Brühstück genannt, kennt Martin Linsi einen Trick: Er fügt ein erbsengrosses Stück Frischhefe dazu. «Dann schmeckt das fertige Brot kaum nach Hefe», ist er überzeugt, aber warum das so ist, weiss er nicht. Gerade solche Finessen haben ihn unter anderem dazu bewogen, bei der kulinarischen Serie des Einsiedler Anzeigers mitzumachen: «Ich erhoffe mir von den Leserinnen und Lesern des ‹Ofä-Tour-li› wertvolle Tipps zum Brotbacken, vielleicht kann mir jemand das Geheimnis der Hefe im Vorteig erklären.»
Spüren, wann der Teig gut ist
Nach dem Loblied auf den Vorteig gehts ans Kneten: Brühstück, Roggen- und Gerstenmehl werden mit Wasser, Hefe und Salz gemischt. Vom Urdinkelmehl fügt Martin Linsi nach und nach so viel hinzu, wie es eben braucht, bis der Teig «stimmt», sich weich und geschmeidig anfühlt, nicht an den Fingern klebt und angenehm duftet. «Beim Kneten spürt man mit allen Sinnen, wann der Teig gut ist», schwärmt Martin Linsi, der sich trotz seiner grossen Erfahrung nicht als experimentierfreudigen Bäcker bezeichnet. Viel wichtiger ist ihm die gleichbleibende, gute Qualität seiner Brote: «Es ist doch fantastisch, mit so wenig Zutaten etwas so Feines herstellen zu können.» Die Balance finden Diese bescheidene Haltung entspricht auch seiner Art zu arbeiten und zu leben: «Ich bin auf der Suche nach der richtigen Balance», erklärt er seine Lebenshaltung. Einen vollen Terminkalender findet er schrecklich. Er ist sehr gern mit seiner Familie, mit Freundinnen und Freunden zusammen, die er auch bekocht. Als Ausgleich dazu ist er gerne allein in der Natur unterwegs und findet in der Musik und beim Lesen innere Ruhe und Inspiration für seine Arbeit als Fotograf.
Kochbücher gehören kaum zur Lektüre des Bäcker-Autodidakten. Eines steht aber auf seinem Küchenregal, das «Tassajara Brotbuch» des amerikanischen Zen-Lehrers Edward Espe Brown. Nebst vielen Brotrezepten enthält es auch philosophische Lebensweisheiten wie diese: «Jeder Teig ist unterschiedlich, so wie jeder Tag unterschiedlich ist.»
Jetzt «stimmt» der Teig: Martin Linsi spürt beim Kneten, wann der Teig die richtige Konsistenz hat. Fotos: Gina Graber
Von Gina Graber