«Corona schlägt der Jugend aufs Gemüt»
Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Luzerner Psychiatrie, spricht über die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche: «Depressive Symptome und Ängste nehmen zu, die Lebenszufriedenheit und Lebensqualität nehmen ab.»
MAGNUS LEIBUNDGUT
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Jugend?
Corona schlägt der Jugend aufs Gemüt. Die Zahl psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen hat stark zugenommen. Depressive Symptome und Ängste nehmen zu, die Lebenszufriedenheit und Lebensqualität nehmen ab. Der normale Lebensalltag mit seiner Routine, seinem Rhythmus ist verloren gegangen. Die neuen Lebensumstände haben sich als extrem anstrengend herausgestellt. Frühere Selbstverständlichkeiten wie etwa das Reisen oder Feiern stellen sich als enorme Herausforderungen dar. Wo orten Sie den Kern des Problems?
Diese Zeit bringt eine grosse Verunsicherung mit sich, das alte Leben scheint uns abhanden gekommen zu sein. Die Selbstwirksamkeit droht vielen Menschen wegzubrechen: Unter Selbstwirksamkeit wird die Überzeugung einer Person verstanden, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Das neue Dasein erscheint unberechenbar: Wer weiss schon genau, was sich hinter der neuen bevorstehenden Corona-Welle verbirgt? Können Sie einschätzen, wie stark sich die Zahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen verändert hat? Was man feststellen kann: In den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich die Zahl der seelisch Auffälligen unter Kindern und Jugendlichen verdoppelt (von 15 auf 30 Prozent). Diese seelisch Auffälligen würde ich noch nicht als psychisch krank bezeichnen: Doch sind sie in Gefahr, krank zu werden. Oftmals entwickeln sich aus diesen seelischen Auffälligkeiten Depressionen, Essstörungen und Suizidgedanken. Die Zahl an psychiatrischen Notfallkonsultationen von Kindern und Jugendlichen hat während der Corona-Pandemie stark zugenommen. Eine Folge davon: Es gibt viel mehr Langzeitfälle im stationären Bereich – die Warteliste ist lang. Wie wirkt sich die Maskenpflicht auf Kinder aus? Für Kinder stellt die Maskenpflicht in der Regel kein Problem dar: Sie hinterfragen diese Massnahme zumeist nicht und nehmen die Maskenpflicht als neue Norm an, mit der sie sich nicht gross beschäftigen. Ich glaube kaum, dass das Maskentragen bei ansonsten gesunden Kindern zu seelischen Schäden führen kann. Die Maskenpflicht ist eher eine eigene Sorge der Eltern, die sie auf ihre Kinder projizieren.
Was passiert mit einem Kind, wenn es von einem Tag auf den anderen seine gewohnte Schulumgebung nicht mehr hat? Schulschliessungen haben naturgemäss negative Folgen für die Psyche der Kinder. Auch wenn Eltern ihre Kinder von der Schule nehmen, hat das Konsequenzen, weil sie einem Umfeld entzogen werden, in dem sie in der Regel gut integriert waren. Kinder sind anpassungsfähige Wesen und können sich gut auf Veränderungen einstellen. Die Frage stellt sich aber, ob Kinder in der Lage sind, emotional nachvollziehen zu können, wieso sie plötzlich nicht mehr in die Schule gehen sollen. Wir sollten aufpassen, dass wir die Schule nicht zu einer Konfliktzone machen, in der ideologische oder gesellschaftliche Machtkämpfe zwischen Erwachsenen ausgefochten werden. Wie reagieren Kinder auf den Umstand, wenn sich die Eltern nur noch via Social Media informieren und alles andere (Wissenschaft, Behörden) ausblenden und in Frage stellen? Man kann die heutige Zeit schwerlich mit der früheren vergleichen, in der die Eltern in der Stube nur die jeweilige Tageszeitung gelesen haben. Damals wurde deren Inhalt als die Wahrheit empfunden – heute ist alles komplizierter. Wir haben es mit einem Medienmix zu tun, die Informationsquellen sind vielfältiger geworden. Ich wäre bezüglich der Kinder und Jugendlichen aber nicht allzu besorgt: Es gibt eine kritische gesellschaftliche Diskussion, man lernt Medienkompetenz in der Schule, aber auch durch Austausch mit Gleichaltrigen, sicher je nach Altersphase.
Tritt bereits Mobbing an den Schulen auf zwischen Kindern, deren Eltern geimpft beziehungsweise nicht geimpft sind? Soziologen beschreiben, dass sogenannter Tribalismus und «Stammesgemeinschaften» wieder im Schwange sind. Hinzu kommt, dass die Jugend an sich eine Zeit ist, in der das Gruppendenken wichtig wird und sich Cliquen bilden. Allerdings bezweifle ich, dass spezielles Mobbing an den Schulen auftritt, das sich an der Impffrage entzündet. Denn die Frage, wer geimpft ist und wer nicht, beschäftigt vornehmlich die Erwachsenen: Es ist weniger ein Thema, das Kinder und Jugendliche konkret beschäftigt: Diese haben ihre eigenen Thematiken, um die sich ihre Gruppen drehen.
Wie können Kinder und Jugendliche einen Umgang mit Corona- Stress finden?
Manchmal können Verdrängung und Ausblenden eine gute Strategie sein, um gar nicht erst einen Corona-Stress aufkommen zu lassen: Wieso soll man sich über Dinge den Kopf zerbrechen, die man nicht verändern kann? Am besten, man studiert nicht zu viel über Anlässe, die coronavirusbedingt ausfallen und die man nun verpasst. Es gibt andere gute, einfache Dinge, die sich umsetzen lassen: Ein Aufenthalt im Wald, ein Pfadi-Anlass draussen vor der Türe, den meisten Jugendlichen fällt da etwas ein. Einschränkungen haben für starke Kinder und Jugendliche teilweise sogar gute Seiten: Man kann in einer solchen Zeit auch wieder zu sich selbst finden, hat seine Ruhe, kann Selbstwirksamkeit erleben. Geht es aber dauerhaft oder zunehmend schlecht, ist fachliche Hilfe zu suchen. Was können Eltern tun, damit ihre Kinder psychisch gesund bleiben in diesen turbulenten Zeiten und Resilienz entwickeln?
Erwachsene sollten verstehen, dass schon kleine Kinder Werte und eine Wertehaltung spüren und wahrnehmen. Jugendliche sind erst recht mit der Frage konfrontiert, was Sinn macht im Leben und was nicht. Ideal wäre es, wenn sich Kinder und Jugendliche abzugrenzen lernen von Thematiken, die nicht aus ihrer Welt stammen. Was der Bundesrat, der Kanton, die Schulbehörde entscheiden in Sachen Corona, entfacht des Öftern Streit zwischen den Erwachsenen: Es ist damit keineswegs unmittelbar ein Thema, das Kinder und die Jugend bewegt. Man bleibt eher gesund in dieser Zeit, wenn man sich weder von einer Ideologie noch von Ängsten noch von Unvorsichtigkeit beherrschen lässt.
Oliver Bilke-Hentsch ist Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Luzerner Psychiatrie: «Die Zahl psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen hat stark zugenommen.» Foto: zvg