Veröffentlicht am

«Die Faszination Kino hält an – auch in kirchlichen Kreisen»

«Die Faszination Kino hält an – auch in kirchlichen Kreisen» «Die Faszination Kino hält an – auch in kirchlichen Kreisen»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Wie kommen Sie zur ökumenischen Jury? Wie die Jungfrau zum Kind? Nicht unbedingt wie die Jungfrau zum Kind (lacht): Ich habe an der Uni Zürich Kurse in der Filmwissenschaft belegt und schreibe beruflich regelmässig Filmtipps. Die ökumenische Jury ist ein internationales Viererteam von «Interfilm»- und «Signis»-Mitgliedern. Die Organisationen haben sich aus der reformierten und katholischen Filmarbeit gebildet. Denn die Kirchen haben die Macht der bewegten Bilder von Anfang an erkannt und sich intensiv damit auseinandergesetzt. Das ging von Zensur bis Filmförderung. Kaum jemand kennt diese Jury. Welche Bedeutung hat sie? Die ökumenischen Jurys sind neben Locarno an drei weiteren Schweizer Filmfestivals vertreten – international sind es rund dreissig. Die Jury rückt eine christliche Perspektive und christliche Werte in den Fokus: Die Filme sollen Perspektiven des Evangeliums vermitteln. Christliche Verantwortung und menschliche Entwicklung sollen auf eine universelle Wirkung und erfinderischen Ausdruck treffen. Das kommt naturgemäss etwas schwammig und abstrakt daher. Vielleicht hilft es, wenn man eher vom Ausschluss ausgeht: Die Filme entsprechen den Ansprüchen der Jury nicht, wenn sie etwa nihilistische oder gewalttätige Inhalte transportieren. Sind denn Papst Franziskus und Bischof Joseph Bonnemain Filmfreaks par excellence? Fakt ist: Die Faszination Kino hält bis heute an – auch in kirchlichen Kreisen. Einst sahen die Kirchen ihre Schäflein durch Filme gefährdet und drohten mit Zensur: So kreierten sie etwa die Rubrik «Nur für reife Erwachsene » (lacht). Dann wurde die Filmarbeit immer wichtiger für die Kirchen. Sie gipfelte in der ökumenischen Filmzeitschrift «Zoom – Filmberater». Sie erschien von 1973 bis 1999 und war in dieser Zeit eine der bedeutendsten Publikationen in der Schweiz im Filmbereich. Von Papst Franziskus wissen wir, dass er neorealistische Filme liebt. Und hätte der Churer Bischof Joseph Bonnemain mehr Zeit, würde er wie früher in Barcelona dreimal die Woche ins Kino gehen. Welche Streifen haben Sie denn nun am Filmfestival Locarno aus ökumenischer Sicht überzeugt?

Natürlich der Gewinnerfilm «Soul of a Beast» von Lorenz Merz. Der russische Film «Gerda» von Natalya Kudryashova über eine junge, starke Frau, die der Zukunftslosigkeit und Einsamkeit die Stirn bietet und der am Ende Flügel wachsen, hat uns auch sehr gefallen. Wieso hat der Schweizer Film «Soul of a Beast» den Preis der ökumenischen Jury gewonnen?

Der Protagonist sehnt sich einerseits nach Freiheit und Abenteuer, übernimmt dann aber als Vater die Verantwortung für seinen Sohn, währenddem die Mutter auf Drogen abstürzt. Hier zeigt sich schön die Verantwortung als christlicher Wert. Abgesehen davon überzeugt der Film auch aus formalen Gründen: Er kommt mutig daher, zeigt phantastische, träumerische Seiten. Die Inszenierung hat einen jugendlich feurigen Atem. Die Film-Crew scheint alles gegeben zu haben. Können Sie den Plot des Filmes kurz schildern? Gabriel ist alleinerziehender Teenager-Vater. Und er ist ein junger Skater, der es liebt, mit seinen Freunden durch die Strassen zu ziehen. Ihr Leben ist abenteuerlich und voller wilder Fantasien. Sie befreien Wildtiere und machen gefährliche Mutproben. Die Sehnsucht nach Freiheit und der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, zerreissen den jungen Mann beinahe. Es kommt zu einem schrecklichen Unfall und zu einer wichtigen Entscheidung. Mehr will ich nicht verraten. Man spricht seit der Jahrtausendwende von einer Renaissance des Religiösen. Kommt diese auch in der Filmwelt zum Ausdruck? Meiner Meinung nach war Religion nie weg. Aber ihre Form verändert sich. Das Religiöse zeigt sich vermehrt in der Spiritualität, im Yoga oder im Schamanismus, die in den Filmen thematisiert werden. Ich sehe viel Religion in den neueren Filmen – allerdings in anderen Formen als in früheren Zeiten: Kirchliche Themen sind weniger en vogue. Von den 17 in Locarno gezeigten Filmen sind nur zwei oder drei nicht religiös konnotiert gewesen. Welche Filme fallen Ihnen spontan ein, die einen religiösen Inhalt haben?

«Corpus Christi», ein polnischer Film, in dem ein tiefgläubiger Häftling als Priester getarnt aus dem Gefängnis flieht. «Das neue Evangelium» von Milo Rau und «Le jeune Ahmed» der Gebrüder Dardenne, eine Geschichte einer religiösen Radikalisierung. «Shalom Allah» von Daniel Vogel über eine Konvertierung zum Islam. «Al-Shafaq – wenn der Himmel sich spaltet» von Esen Isik. Welcher Film hat Sie selbst am meisten bewegt? «Quo vadis, Aida?» von Jasmila Žbanić: Aida ist im Juli 1995 in Srebrenica als Übersetzerin für die Vereinten Nationen tätig. Nach der Machtübernahme durch die bosnisch-serbische Armee gehört ihre Familie zu den Tausenden Bürgern, die im Lager der UNO Schutz suchen. Im Zuge der Verhandlungen muss Aida Informationen mit fatalen Auswirkungen übersetzen. Trotz all der erlebten Greuel lebt Aida weiter und sucht Versöhnung statt Rache. Ihre Wurzeln liegen im Klosterdorf: Hat Sie das im religiösen Sinne geprägt?

Natürlich! Wen prägt das nicht? Es war ganz selbstverständlich und «normal», in die Kirche zu gehen, die Rituale und Sakramente zu erleben. Als Kind habe ich nichts anderes gekannt. So bin ich Ministrantin, Lektorin und Stiftsschülerin geworden: Auch das Mönchtum hat mich fasziniert. Als Teenager habe ich irgendwann die Reissleine gezogen: Ich ging nicht mehr in die Kirche, habe den Job als Ministrantin aufgegeben und das Gutenachtgebet abgesetzt. Trotz dieses Bruchs hat mich die Religion weiterhin fasziniert. So wollte ich als Zwanzigjährige in der Tat Theologie studieren – und dann noch reformierte Theologie an der Uni Zürich (lacht). Bleibt das Religiöse in Einsiedeln eher erhalten als etwa in Zürich? In Zürich ist die religiöse Landschaft viel heterogener als in Einsiedeln. Weil das Katholisch- Sein in Zürich nicht einfach normal und selbstverständlich ist, muss man sich dafür entscheiden. Im Klosterdorf bin ich quasi automatisch ins katholische Milieu hineingewachsen. Beobachten Sie eine Verdunstung des Religiösen in unserer Gesellschaft? Nein, Religion wird gelebt und bleibt im Gespräch. Die meisten glauben an etwas Höheres – wenn auch nicht unbedingt mehr im kirchlichen Sinne. Transzendenz ist ein grosses Thema. Viele wollen Rituale praktizieren.

Wieso verlieren die Kirchen immer mehr an Bedeutung? Institutionen und Vereine haben es allgemein schwer in der Gesellschaft der heutigen Zeit. Die Leute haben viel weniger Interesse als früher, sich an eine Institution oder an einen Verein zu binden. Bei der katholischen Kirche kommt hinzu, dass Missbrauchsfälle und die fehlende Gleichberechtigung der Frauen die Menschen zum Austritt drängen. Müssten die Kirchen das Evangelium besser so vermitteln, wie das Milo Rau in seinem Film macht? Das ist eine gute Frage: Je authentischer jemand das Wort Gottes verkündet, umso glaubwürdiger kommt er rüber. Meint der Regisseur, der Pfarrer, was er zeigt oder sagt? Darum geht es doch … Milo Rau macht das prima in seinem Film.

Eva Meienberg ist Mitglied der diesjährigen ökumenischen Jury am Filmfestival in Locarno. Die 43-jährige Redaktorin im katholischen Medienzentrum – mit Einsiedler Wurzeln – schildert, wie der Streifen «Soul of a Beast» von Lorenz Merz zum Gewinnerfilm auserkoren wurde.

Eva Meienberg hat als Mitglied der vierköpfigen ökumenischen Jury das Filmfestival Locarno besucht. Foto: Manuela Matt

Share
LATEST NEWS