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Eine Zeitreise für Hund und Mensch

Eine Zeitreise für Hund und Mensch Eine Zeitreise für Hund und Mensch

Ohne ihren Blindenführhund hätte Amalia Imhof aus Bauen ein viel eingeschränkteres Leben

Schon ihr halbes Leben darf die hochgradig sehbeeinträchtigte Amalia Imhof auf das Können von Blindenführhunden zählen. Zurzeit ist es die Labradorhündin Ganya, welche die unternehmungslustige Frau überallhin begleitet. Die tiefe Bindung ist in jeder Situation spürbar.

MARLIES MATHIS

Faszinierend und beinahe unglaublich zugleich würdigt mich die Blindenführhündin Ganya keines Blickes, als ich sie und ihre Halterin Amalia Imhof, die auf dem Vierwaldstättersee von Bauen hergekommen sind, am Schiffssteg in Brunnen begrüsse. Das dauert jedoch nur so lange, bis die Seniorin ihr das Führgeschirr abgenommen hat und ihr mit dem Wort «Libera» Erlaubnis gibt, mit mir in Kontakt zu treten. Sofort kommt die aufmerksame Labradorhündin auf mich zu, beginnt mit dem Schwanz zu wedeln und geniesst die ersten Streicheleinheiten.

Amalia Imhof klärt mich auf, dass ein Blindenführhund so erzogen ist, dass er sich während seiner Arbeit als Begleiter des Menschen auf keinen Fall ablenken lassen dürfe, gefährde er doch dadurch die Sicherheit seiner Halterin. Dies sei etwas vom Wichtigsten, was er in seiner Ausbildung von klein auf lerne, deshalb eigne sich auch nicht jeder Hund oder jede Rasse als Blindenführhund.

Labrador-Retriever sind bestens geeignet Die besten Erfahrungen macht die 1972 gegründete Blindenführhundeschule in Allschwil, BL, mit Labrador-Retrievern. Diese Hundeart ist einerseits sehr lernwillig, zuverlässig, ausgeglichen und pflichtbewusst, hat anderseits aber auch einen sehr guten Charakter, ist feinfühlig und ein eigentlicher Freund des Menschen.

Bereits im Alter von zehn Wochen kommt der Welpe in eine geeignete Patenfamilie, die mit ihm die ersten Grundlagen trainiert, betreut von einem professionellen Mitarbeiter der Führhundeschule. Nach rund ein bis anderthalb Jahren geht es zurück nach Allschwil, wo ihn nun der Ausbildner während sechs bis neun Monaten auf seine künftige Aufgabe als Blindenführhund vorbereitet.

Selbstverständliches wird zur Herausforderung Weiter führt Amalia Imhof aus, dass der Hund beispielsweise lernt, auf Gefahren aufmerksam zu machen, Hindernisse anzuzeigen, sich im (öffentlichen) Verkehr, in der Stadt und auf dem Land zurechtzufinden. Aber auch den Strassenlärm oder überraschende Situationen stoisch zu ertragen und sich nicht von anderen Tieren oder Menschen ablenken zu lassen und natürlich die Kommandos der Halterin zu befolgen, diese sollte sich jedoch ebenso in sämtlichen Lagen ruhig verhalten.

«Viele Leute sind oft spontan und gehen auf den Blindenführhund zu, rufen oder pfeifen ihm oder wollen ihn streicheln», wirft die ausgebildete Spitalhelferin, die schon von klein auf an einer sich stets verschlechternden Sehbeeinträchtigung leidet, ein. Gerade dieses Verhalten gefährde die Sicherheit der blinden Person extrem. «Ich will mir ja nicht den Kopf anstossen oder irgendwo hinunterfallen», schliesst sie die Begründung trocken, aber ernst gemeint ab.

Übrigens habe sie nach der Pensionierung der Vorgängerhündin wegen Corona mehr als zehn Monate auf den neuen Führhund warten müssen, und sie sei in dieser Zeit in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt gewesen. Sie habe sich zwar mit dem Langstock fortbewegen können, aber nie auf etwas anspruchsvolleren Wegen wie mit dem Hund.

Als wären sie hier daheim Damit Ganya nicht irritiert ist, dass jemand mit ihrer Halterin unterwegs ist, wird sie an die Leine genommen und spaziert wie jeder andere Hund mit, während Amalia den weissen Stock ausfährt und mich am Arm nimmt. So überqueren wir den ersten Fussgängerstreifen an der stark befahrenen Strasse am Hafen von Brunnen, und die lebhafte Dame macht mich auf die schmalen Linien der Blindenmarkierung auf dem Boden aufmerksam, die eine grosse Hilfe für Mensch und Führhund sind.

Um eins zu eins mitzuerleben, wie das Gespann Ganya- Amalia im Alltag mit dem Führgeschirr funktioniert, werde ich gebeten, einige Meter dahinter zu folgen. Zügig legen die beiden los, und die Hundehalterin tritt stets fest auf, um den unterschiedlichen Strassenbelag wahrzunehmen. Die zwei bewältigen in unglaublichem Tempo verwinkelte Gassen und Häuserecken, Trottoirränder und Treppenstufen. Immer wieder stoppt Ganya, um Hindernisse anzuzeigen und ich höre von Amalia: «Vai!» Was bedeutet, dass die Halterin das Hindernis erkannt hat und der Hund weitergehen soll. Übrigens werden alle Befehle an Blindenführhunde auf Italienisch gesagt.

Die beiden kennen sich hier wie in ihrer Hosentasche aus, und die ehemalige Ostschweizerin steuert mit ihrer Hündin am Führgeschirr zielstrebig dem Ingenbohler Wald zu. Plötzlich halte ich den Atem an, quert doch ein dicker oranger Schlauch die Gasse. Doch kein Problem für die beiden. Ganya zeigt die Gefahr an, und Amalia meistert sie gekonnt und weiter gehts. Freiheit und -zeit geniessen

Im Wald wird dann der dreijährigen Hündin das «blaue Mänteli» mit der Aufschrift «Blindenführhund » übergezogen, ein Glöcklein für die akustische Wahrnehmung angehängt, und sie darf sich mit dem Kommando «Libera! » nun frei bewegen, während mir die kommunikative Halterin eine Menge weiterer Fragen beantwortet. Im Normalfall gehe sie bei heissen Temperaturen immer früh hinaus und wegen des Schattens in den Wald. Hier könne sich Ganya frei bewegen, spielen und entspannen, denn es ist verpflichtend, dem Hund an sicheren Orten täglich ein bis anderthalb Stunden Freilauf zu gönnen.

Inzwischen frisst das «Labradörli », wie es manchmal liebevoll genannt wird, Gras am Wegrand, bleibt in unmittelbarer Nähe und vergewissert sich immer wieder mit einem Blick seiner treuherzigen Augen, ob wir noch da sind. Die innige Bindung zwischen den beiden ist richtiggehend zu spüren, auch wenn Amalia betont, dass sich der Hund am Menschen orientieren soll. Sie erzählt aber auch mit tiefer Dankbarkeit, wie sie mit jedem Hund eine Zeitreise mit vielen Veränderungen und Entwicklungen erlebt habe. Verständlich, dass es jedes Mal traurig ist, wenn sie sich von einem Führhund trennen muss, und das waren in den vergangenen 34 Jahren doch einige.

Zielgerichtet geht es nun zurück nach Brunnen, wo sich Ganya beim Mittagessen zusammengekugelt unter dem Stuhl von Amalia ausruht und nach Fliegen schnappt, während mir nach diesem bereichernden Halbtag so richtig bewusst wird, dass mir die Blindenführhündin und ihre Halterin für einiges die Augen geöffnet haben.

Sie haben eine innige Bindung und grosses gegenseitiges Vertrauen: Die Blindenführhunde-Halterin Amalia Imhof und ihre dreijährige Labradorhündin Ganya.

Fotos: Marlies Mathis

Jede Treppenstufe ist ein Hindernis und wird von der Blindenführhündin angezeigt.

Beim Mittagessen ruht sich die Hündin mit den treuherzigen Augen zusammengekugelt, wie sie das gelernt hat, unter dem Stuhl ihrer Halterin aus.

Ganya geniesst ihren verdienten Freilauf im «Chloschterbächli» in Brunnen in vollen Zügen.

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