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’s Chästli

FANNY REUTIMANN

Es ist zwar nicht wissenschaftlich erwiesen, dennoch kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen Todesanzeigen nach folgendem Schema lesen: Zuerst den Namen des Verstorbenen (gekannt/nicht gekannt). Danach widmet man sich dem Geburtsdatum. Hier ergibt sich eine gewisse Triage, um nicht zu sagen Wertung. Ist die Person jung gestorben («oje»), war sie etwa im Alter des Lesers (betretene Kenntnisnahme, allenfalls «ohä, en Jahrgänger»), starb sie in hohem Alter («die isch au no rächt alt worde»)? Liest man weiter, kann man je nach Todesanzeige Spekulationen über die Todesursache anstellen und Verwandtschaftsgrade herauszufiltern versuchen. Die ganzen frommen Sprüche liest man, wenn überhaupt, zuletzt. Ich gehe davon aus, dass das in Einsiedeln etwa ähnlich läuft. Was hier jedoch anders ist, sind diese ominösen Chästli. Sie hängen in ihrer pietätvollen Bescheidenheit beim Rathaus und am Bahnhof. Meinen lieben Dani zieht es wie einen Magneten dorthin, sobald er in der Nähe ist. Für mich hat das Chästli keine Bedeutung, mutet gar etwas voyeuristisch an. Als Neuling in Einsiedeln hätte ich die Personen, deren Todesanzeigen im ominösen Chästli hängen, nur in Ausnahmefällen gekannt. Dani dagegen, Ureinwohner von Einsiedeln und seinerseits kein Jungspund mehr, kannte natürlich viele der Verstorbenen und/oder deren Angehörige. Seinen Standardspruch, wenn eine ältere Person verstorben ist, kenne ich mittlerweile allerbestens und finde ihn trotzdem noch immer etwas schräg: «Da ist auch nicht mehr die Hebamme schuld dran.» * Derartige Aushängechästli mit Todesanzeigen sind in Fanny Reutimanns alter Heimat nicht üblich. Die 56-Jährige ertappt sich jedoch auch ab und zu dabei, wie sie im Einsiedler Anzeiger die Todesanzeigen nach obigem Schema liest.

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